Nacht ohne Schatten
Brandgeruch hängt in der Luft und kratzt in ihrer Kehle. Löschtrupps formieren sich, offenbar wollen sie ins Gebäude eindringen. Warum erst jetzt, wie lange sind sie schon hier?
»Wir dachten schon, wir hättenâs im Griff!«, schreit einer der Männer, den Judith zu fassen bekommt. »Wir wollten schon abrücken, da gingâs plötzlich rund.«
Feuerwehrleute mit Atemschutzmasken klettern in den Rettungskorb eines Drehleiterfahrzeugs, das langsam auf das Haus zurollt. Mit ihren Pressluftflaschen auf dem Rücken erinnern sie an Taucher. Wo ist der Einsatzleiter? Es ist schwer, sich inmitten der Löschzüge und Männer zu orientieren, deren Bewegungen einer für AuÃenstehende nicht erkennbaren Choreografie gehorchen. Im Gastraum der Pizzeria flackern Flammen, gespenstisch leise, gemessen an ihrer Zerstörungskraft, als hätten sie mit der lärmenden Hektik auf der StraÃe nichts zu tun. Das Obergeschoss der Pizzeria ist dunkel. Aus dem Mauerwerk über den Fenstern quillt schwarzer Qualm.
Auf einmal erkennt Judith, was sie am Abend nicht gesehen hat. Das Haus ist schon vor diesem Brand verwundet worden. Die Stuckelemente an der Fassade und die hohen Fenster des brennenden Gastraums im Parterre sind typisch für ein Wohngebäude, das um 1900 erbaut wurde. Die oberen Stockwerke müssen den Bomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer gefallen sein. Lediglich die erste Etage wurde mit einem hässlichen Flachdach versehen und so wieder bewohnbar gemacht.
Judith entdeckt endlich den Einsatzleiter und schlängelt sich zu ihm durch. Er spricht in sein Funkgerät, unterstreicht seine Befehle mit knappen Handbewegungen, auch wenn die meisten seiner Männer die nicht sehen können. Seit im vorigen Jahr ein Feuerwehrmann bei einem Löscheinsatz nicht mehr aus einem brennenden Gebäude herausgefunden hat, gehören Funkgeräte zur Standardausrüstung der Kölner Feuerwehr.
Judith packt den Einsatzleiter am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
»Was ist mit dem ersten Stock? Wohnt da jemand?«
»Der Inhaber.«
»Ist er da drin?«
Ein hässlich kreischendes Geräusch kommt seiner Antwort zuvor. Die Fenster der Gaststube zerbersten, Glassplitter und glühender Schutt hageln auf die StraÃe, der Brand explodiert zu einem Feuerball, der aus der Fassade bricht und in Sekundenschnelle das ganze Haus erfüllt. Aus dem oberen Stockwerk schlagen jetzt Flammen in den Nachthimmel. Verlangen. Leidenschaft. Liebe. Hingabe. Der Gedanke an ihre Tarotkarte ist völlig absurd.
»Was war das?« Sie muss schreien, um sich verständlich zu machen. Mit jedem Wort beiÃt der Rauch stärker in den Lungen, scheint tiefer einzudringen, ein tödliches Gift.
»Die Gaszufuhr ist abgedreht. Vielleicht waren Propangasflaschen in der Küche. Kann auch ein Flashover sein!« Der Einsatzleiter wendet sich von Judith ab und bellt weitere Befehle in sein Funkgerät. Die Löschtrupps, die sich bei der Explosion zurückgezogen haben, rücken wieder vor. Wasserkaskaden zischen in die Flammen.
Und dann ist es vorbei, so plötzlich, wie es begonnen hat. Wie eine schwärende schwarze Wunde liegt die Brandruine imScheinwerferlicht. Nur der ätzende Qualm hängt noch in der Luft. Judith kämpft sich ein weiteres Mal zum Einsatzleiter durch.
»Ich muss wissen, ob das Brandstiftung war!«
»Ein Flashover ist eine ganz normale Rauchgasexplosion. Wie gesagt, auch Gasflaschen könnten die Ursache sein.«
»Keine Brandstiftung also?«
Er zuckt die Schultern. »Kann ich so nicht sagen. Das Gebäude ist alt. Stein, Holzdecken, Holzmöbel â das brennt wie Zunder, wie man so sagt. Alles Weitere wird sich zeigen. Die Brandermittler sind unterwegs.«
Manni steht plötzlich neben Judith und sieht beinahe so müde aus wie im letzten Sommer, als sie tagelang nach dem verschwundenen Jungen Jonny suchten und zeitgleich Mannis Vater starb. Es muss ein Brandanschlag sein, denkt Judith, es gibt keine andere Möglichkeit, wir müssen es nur beweisen.
Ein Feuerwehrmann rennt auf sie zu, reiÃt sich im Laufen die Schutzmaske vom Gesicht. »Ein Toter im ersten Stock!«
»Der Inhaber?«
»Ich weià es nicht.«
Der Rettungskorb der Drehleiter hebt sie an der ruÃigen Fassade hoch. Früher hatte Judith Höhenangst. Während der Polizeiausbildung hat sie die überwunden, doch seit
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