Nacht ohne Schatten
dieser unseligen Weihnachtstombola neulich ist die Angst vor dem Fallen wieder da, lauert in ihr, bereit, sie anzuspringen und auÃer Gefecht zu setzen. Doch das wird sie nicht zulassen. Sie umfasst das Geländer des Drehkorbs, weitaus fester, als es nötig ist, versucht sich auf etwas anderes zu konzentrieren und vor allem nicht hinunter auf die StraÃe zu starren. Ich versuche einen Flügel zu erschaffen, der den uralten Menschentraum vom Fliegen symbolisiert, hat die Künstlerin Theodora Markus gesagt. Judith sieht zu der alten Fabrik hinüber. Gibt es dort ein Geheimnis, das relevant für diese Ermittlungen ist? Ist irgendjemand dort, jetzt, in diesem Augenblick? Unmöglich, das zu erkennen. Die Fenster sind dunkel.
Der Korb kommt vor einem aufgebrochenen Fenster zum Halten, der Feuerwehrmann, der sie begleitet, strahlt mit einer Lampe auf die Ãberreste eines Betts. Wie hältst du das aus? All diese verkohlten, verwesenden, verstümmelten, stinkenden Körper, die du ansehen musst, so oft hat Judith diese Frage schon gehört. Man konzentriert sich auf die Fakten, man lernt, damit zu leben, erwidert sie meistens. Doch die Wahrheit ist, dass ein toter Körper längst nicht so schwer zu ertragen ist wie die Vorstellung davon, was zuvor mit dem Menschen geschah.
Judiths Augen tränen. Kunststoffe, Textilien, Elektrogeräte sind zu stinkender, giftiger Asche verklumpt. Sie wischt sich mit dem Jackenärmel über die Augen, konzentriert sich auf den Innenraum. Im Dielenboden klafft ein Loch. Der einzige noch erkennbare Einrichtungsgegenstand ist ein Bett an der Wand. Was einmal eine Matratze war, ist weggebrannt. Reste einer Decke oder eines Pyjamas sind mit den verkrümmten GliedmaÃen der durch die Hitze geschrumpften Person, die darin liegt, verschmolzen. Die Beine sind angewinkelt, als wollten sie nach jemandem treten. Schwarze Zahnreihen blecken in dem zur Unkenntlichkeit verkohlten Gesicht.
»Okay, das reicht.« Manni signalisiert mit dem Daumen, dass der Korb wieder herunterfahren kann. »Ein klarer Fall für Karl-Heinz Müller.«
»Warte«, sagt Judith. »Ich will näher ran. Etwas ist komisch an der Körperhaltung.«
»Fechterstellung halt.«
Sie schüttelt den Kopf, versucht mit zusammengekniffenen Augen deutlicher zu sehen. Ja, die Beine und der linke Arm entsprechen dieser für Brandopfer typischen Körperhaltung, die durch von der Hitze zerplatzte Gelenke und Sehnen zustande kommt. Und trotzdem stimmt etwas nicht, möglicherweise mit dem rechten Arm.
»Ich muss da rein.«
Der Löschzugführer schüttelt den Kopf. »Der Boden ist instabil.«
»Ich muss näher ans Bett.«
»Zu viel Giftgas, zu gefährlich.«
Die Drehleiter bringt sie wieder nach unten, und für einen Moment will sie aufgeben, nicht nochmals freiwillig den festen Boden unter den FüÃen verlieren, schon gar nicht oben herumkriechen, wo der Boden unter ihr wegbrechen kann. Aber sie hat etwas gesehen, will diese alte Angst nicht siegen lassen, und so wird ein Druckluftgerät in Position gebracht, das die Rauchgase aus dem Schlafzimmer pumpen soll, damit sie dort oben wenigstens nicht erstickt.
Sie spielen es durch, während sie warten. Möglichkeiten. Theorien. Hat der Täter Berger von der Pizzeria aus beobachtet und will nun sichergehen, dass es dort keine Zeugen gibt? Soll der Brand womöglich von dem S-Bahn-Mord ablenken oder umgekehrt, der Mord an Berger von einem Anschlag auf die Pizzeria? Gibt es eine Verbindung zwischen Berger und dem Toten, von dem sie annehmen, dass er der Mann ist, bei dem Judith ein paar Stunden zuvor Pizza für die Soko-Kollegen gekauft hat? Was macht der Brandanschlag mit der Obdachlosentheorie?
»Sie können dann.«
Die Drehleiter bringt Judith erneut nach oben. Eine Leiter auf dem Boden des ausgebrannten Schlafzimmers, die vom Fenster zum Bett führt, ist ihre Sicherung. Zentimeter um Zentimeter schiebt sie sich darauf vorwärts, auf allen vieren, ihren Starrsinn verfluchend, denn nun, wo sie ihren Willen durchgesetzt hat, kommt die Angst mit solcher Wucht, dass sie zu zittern beginnt. Der verkohlte Dielenboden unter ihr knarrt. Schweià läuft ihr in kleinen Bächen am Rücken und zwischen den Brüsten entlang. Sie hätte auf die Spurensicherer warten sollen. Sie hätte nicht so stur sein sollen. Aber dann wäre etwas verflogen, verändert, sie kann
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