Nacht ohne Schatten
und will nicht benennen, was, weià nur, dass sie sehen muss, alles sehen muss, und zwar allein.
Halt dich flach über der Leiter, verteil dein Gewicht. Verursache keine Erschütterung. Und vor allen Dingen denk nichtdaran, dass du einbrechen kannst, fallen, unter stinkenden Trümmern begraben werden. Noch mehr SchweiÃ, in stetigen Bächen. Noch ein Zentimeter, noch eine Armlänge. Denk nicht ans Fallen, konzentrier dich auf diesen Raum, dieses Bett, diesen Toten. Jetzt hat sie ihn erreicht, richtet sich auf und sieht, was sie sehen muss. Holt keuchend Atem und schiebt sich zurück, vorsichtig, so vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, bis sie das Fensterloch erreicht und die Männer sie packen und zurück in den Rettungskorb ziehen.
»Ich glaube, sein rechtes Handgelenk war an den Bettpfosten gefesselt.« Ihre Stimme ist heiser, das Kratzen in ihrer Lunge schier unerträglich. Sie hustet, schüttelt sich. Ich muss mit dem Rauchen aufhören, denkt sie und sehnt sich trotzdem nach einer Zigarette.
»Also Mord.« Manni hält ihr seine unvermeidliche Tüte Fishermanâs hin. Ich mag ihn, denkt sie. Ich arbeite gern mit ihm zusammen. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht.
Etwas bewegt sich im Hauseingang, jemand schreit.
»Notarzt, Notarzt, schnell, schnell, schnell!«
Bevor sie irgendetwas begreifen, stolpert ein Feuerwehrmann ins Freie. Eine Frau hängt reglos in seinen Armen, nein, eigentlich noch ein Mädchen. Blondes Haar fällt über die Uniform des Mannes. Wären nicht die RuÃschlieren auf ihrem rosafarbenen Nickianzug, die bläuliche Gesichtsfarbe und die besorgte Hektik der Rettungsleute, könnte man denken, sie schliefe.
»Schwere Rauchgasvergiftung. Sauerstoff! Schnell!« Die Finger des Notarztes fliegen.
»Wo um Himmels willen habt ihr sie her?« Manni scheint unfähig zu sein, den Blick von der Bewusstlosen zu wenden.
»Sie war im Keller«, erwidert ein Feuerwehrmann. »Ein alter Luftschutzkeller. Ausgestattet mit Klimaanlage und einer modernen Feuerschutztür.«
Im Gänsemarsch folgen sie ihm in die Brandruine. Ich friere, denkt Judith. Trotz der Hitze hier drinnen. Ich will nicht sehen,
was da unten ist. Ich weià schon jetzt, dass es diesen Fall noch weiter verkompliziert.
Ruà an Wänden und Möbeln. Herzförmige Kissen, ein Sonnenuntergangsposter mit Palmen, eine Lichterkette mit roten Herzen, ein französisches Bett, rosa bezogen. Eine Schachtel Kleenex steht auf dem Boden davor. Kein Tisch. Kein Fenster. Auf einer weiÃen Kommode Kosmetika, Billigmodeschmuck und eine herzförmige Pappschachtel mit Kondomen. Ãber einem Stuhl hängt ein Spitzen-BH.
Because the night is made for loving.
Die Erinnerung an Patti Smith ist falsch, so furchtbar falsch in diesem Keller.
»Was ist das hier, ein Jungmädchenzimmer?«, fragt einer der Brandmeister rau.
»Es ist ein Gefängnis«, sagt Judith und wundert sich, wie vollkommen sachlich ihre Stimme klingt.
* * *
Wie spät ist es? Manni ist zu kaputt, um auf die Uhr zu schauen, ohnehin ist die Uhrzeit nicht von Belang, die Spurensicherung ist unterwegs, die Brandermittler, Karl-Heinz Müller und die Feuerwehrleute zelebrieren ihre eigenen Routinen. All das dauert, solange es eben dauert, und es spielt dabei absolut keine Rolle, ob sich die ermittelnden Personen aufgrund eines akuten Schlafdefizits und beinahe sauerstoffloser Kellerluft gerade etwas unpässlich fühlen. Wenn er wenigstens gestern Abend früh schlafen gegangen wäre, statt mit zwei Kumpels in einer Bar Billard zu spielen, was, wenn er ehrlich ist, eine alberne Trotzreaktion darauf war, dass Sonja sich weder bei ihm gemeldet hatte noch telefonisch zu erreichen war.
Judith Krieger, die soeben mal wieder ihren berühmten Instinkt unter Beweis gestellt hat, widmet sich mit offenbar ungebrochenem Elan der Untersuchung des Kommodeninhalts. Das Schränkchen selbst ist ein klassisches Ikea-Modell: Troll, Björn, Elch, irgend so einen putzigen Namen wird es wohl haben.Manni versucht sich vorzustellen, wie der Italiener, dessen Pizza allenfalls mittelmäÃig schmeckte, den Möbelkarton im Einkaufswagen über den Ikea-Parkplatz in Godorf zum Auto schob, wie so viele Familienväter und Studenten auch. Judith Krieger wühlt unterdessen T-Shirts, Pullis, Miniröckchen und Strumpfhosen aus dem Kommodenunterteil hervor. In der Mittelschublade befinden
Weitere Kostenlose Bücher