Nacht ohne Schatten
denkt sie und hört ihren Herzschlag viel zu laut.
* * *
Der Motor des 2 CV erstirbt mit einem schwachbrüstigen Huster, die Windschutzscheibe beginnt erneut zu beschlagen. Im Sommer hat Judith die schaukelnden Fahrten mit offenem Verdeck genossen. Jetzt, im Winter, offenbart ihr Nostalgiekauf vor allem seine Nachteile. Judith wühlt auf dem Beifahrersitz nach einer Notpackung
Benson & Hedges.
CD-Hüllen klappern. Manfred Mann, Pink Floyd, Fleetwood Mac. Vertraut nach all den Jahren, ein Soundtrack ihrer Gefühle und Erinnerungen. Aber in letzter Zeit hat sie manchmal keine rechte Lust mehr, sie zu hören, im Auto nicht, zu Hause nicht. Als hätte siesich von etwas verabschiedet, ohne zu begreifen, wovon oder warum.
Judith steckt die Zigarettenpackung in die Tasche ihres Ledermantels und steigt aus. Vor zwei Tagen hätte sie die Haltestelle Gewerbepark allenfalls vage beschreiben können. Jetzt ist das Gelände in ihr Gedächtnis gebrannt, auch wenn sie seine Geheimnisse nicht einmal ansatzweise deuten kann. Die ausgebrannte Pizzeria wirkt tot, die S-Bahn-Haltestelle ebenso, aber in einigen Fenstern im ersten Stock der alten Kunstfabrik brennt noch Licht. Judith vergegenwärtigt sich die Aufteilung der Ateliers. Die Arbeitsräume der Künstlerin Nada haben tatsächlich den besten Blick auf das Wartegleis, doch sie sind dunkel.
Es gibt keinen konkreten Grund dafür, nicht einmal einen Anfangsverdacht gegen die Künstler, dennoch läuft Judith über die StraÃe zur Fabrik. Die stählerne Eingangstür lässt sich problemlos öffnen. Die Türen der Ateliers im Parterre sind verschlossen, trotzdem riecht es nach Farbe und Leim. Aus dem Obergeschoss klingen Stimmen, Gelächter, kubanische Musik. Rote Grablichter illuminieren den Treppenaufgang, ganz offensichtlich haben die Künstler etwas zu feiern. Ein Mann mit akkurat getrimmtem grauen Vollbart und farbbekleckster Jeans lehnt neben der Tür zum Atelier der Künstlerin Theodora Markus, in dem die Party stattzufinden scheint. Er hebt ein Rotweinglas und prostet Judith zu, als er sie wahrnimmt, stumm und angestrengt in sein Handy lauschend, das er mit der freien Hand ans Ohr presst.
»Sie?« Theodora Markus hinkt auf Judith zu, auch sie hält ein Rotweinglas in der Hand. Ihre Statur wirkt kräftiger, als Judith sie in Erinnerung hat, die Kleidung wie ein Panzer, der Muskeln oder Fett verbirgt. Es ist schwer zu sagen, denkt Judith, ob die Männerhose, die Sweatshirts, das kantige Kinn und die kühn gebogene Nase nicht nur die grandios inszenierte Tarnung einer ganz anderen Persönlichkeit sind, einer zarteren, weichen.
»Ich habe noch Licht gesehen.«
»Ich feiere meinen Geburtstag«, sagt die Künstlerin kühl. »Das ist ja wohl nicht verboten.«
»Nein, natürlich nicht. Herzlichen Glückwunsch.«
Theodora Markus stützt sich auf ihren Gehstock, trinkt einen Schluck Wein. »Das Altwerden lässt sich nicht ignorieren, also kann man es auch feiern.«
»Ich hatte gehofft, Ihre Ateliernachbarin hier zu treffen. Ich muss wirklich mit ihr sprechen, doch bislang hat sie auf keinen meiner Anrufe reagiert.«
»Sie suchen Nada?« Ohne dass Judith es bemerkt hat, ist der Graubärtige vom Flur zu ihnen getreten, deutet eine Verbeugung an und reicht Judith eine Visitenkarte. Paul Klett â LebensKUNST steht darauf.
»Nada zieht sich manchmal zurück«, sagt er, nachdem Judith sich vorgestellt hat. »Sie ist noch jung und schon ein Star. Das ist nicht immer leicht.«
»Sie kennen sie näher?«
»Wir sind Kollegen. Ich gebe ihr hin und wieder einen Tipp. Auch ich habe mal angefangen, mich auf dem Kunstmarkt zu behaupten. Und ich weiÃ, wie wichtig es ist, sich in einem kreativen Prozess vor äuÃeren Einflüssen zu schützen.«
»Aber Nadas Arbeitsplatz ist hier.«
»Sie verreist gern.«
»Aber Sie wissen nicht, wohin?«
»Kroatien vielleicht, da stammt ihr Vater her.« Er hebt die Schultern. »Sie ist ein freier Mensch.«
»Trinken Sie ein Glas Wein mit mir.« Theodora Markus nickt zu ihrem Arbeitstisch in der Mitte des Ateliers hin, auf dem zwischen weiteren Grablichtern und filigranen Treibholzzweigen Flaschen, Gläser, Fladenbrot und Tonschalen mit Oliven und Schafskäse stehen. Ohne Judiths Antwort abzuwarten, setzt sie sich in Bewegung. An ihrer Schläfe pocht eine Ader. Sie will nicht
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