Nacht ohne Schatten
Schnalle.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt die Rechtsmedizinerin.
»Yep.« Manni rührt mit dem Zündschlüssel im Schloss. Nach dem dritten Versuch erbarmt sich der Anlasser und erweckt den Dienstwagen keuchend zum Leben. Die Russin klemmt ihre Untersuchungstasche auf den Boden und drapiert sich die Pelzmütze auf die Knie. Offenbar hat ihr noch nie jemand erklärt, dass farbiger Lidschatten eindeutig nicht dem aktuellen Schönheitsideal entspricht. Grün hat sie heute gewählt, natürlich, was auch sonst. Immer schön Ton in Ton.
Sie fahren, ohne miteinander zu reden, und das Schweigen ist kein angenehmes Schweigen, sondern eines, das mit jeder Sekunde mehr Gewicht bekommt, sich wie eine Mauer zwischen ihnen türmt. Er könnte dagegen anreden, die Petrowa fragen, wie es ihr in Köln gefällt oder nach ihrer russischen Heimat, so wie er es normalerweise bei neuen Kollegen tut. Doch er hat keine Lust dazu, keinen Elan, und so überlässt er sich den Gedanken an Sonja, die ihn für den Abend zum Essen eingeladen hat. Hatte sie ihm wirklich von dem Yoga-Workshop erzählt? Wie sieht ihre Wohnung aus, was wird sie kochen? Er stellt sich Sonjas Körper vor, ihren Geruch, ihr Lachen. Er denkt an das, was sie nach dem Essen tun werden. Er sollte ihr ein paar Blumen mitbringen. Oder eine Flasche Wein.
Die Russin räuspert sich.
»Warum wollen Sie, äh, willst du dabei sein?« Ihre Stimme ist in Relation zu ihrem zierlichen Körper erstaunlich dunkel und kräftig, einmal mehr fällt Manni das auf.
»Dienstanweisung«, sagt er knapp und weicht einem parkenden Lieferwagen aus, zieht direkt vor einen fetten BMW, dessenFahrer die Hupe malträtiert und wütend gestikuliert. Ekaterina Petrowa taxiert ihn von der Seite, verzieht keine Miene. Manni quetscht den Focus wieder auf die rechte Spur. Dienstanweisung ist nur zum Teil korrekt, er selbst hat im Morgenmeeting dafür plädiert, ins Krankenhaus zu fahren, allerdings allein. Er vermag nicht zu sagen, warum ihm das so wichtig ist, schlieÃlich ist das Geheimnis des bewusstlosen Mädchens nur ein Puzzlestein von vielen. Und doch ist Manni davon überzeugt, dass bei ihr die Suche nach dem Täter beginnen muss, dass sie vielleicht sogar das Bindeglied zwischen den beiden toten Männern darstellt. Wie komme ich eigentlich darauf, fragt er sich jetzt unter dem prüfenden Blick der Russin und sieht für den Bruchteil einer Sekunde nicht das Komamädchen vor sich, sondern Sonja, was ihn nun wirklich überhaupt nicht weiterbringt.
Die Russin dreht den Kopf zum Seitenfenster und starrt in den Regen. Die Stille zwischen ihnen bläht sich wieder auf. Millstätt hat ihm die Petrowa aufs Auge gedrückt, und wer weiÃ, vielleicht erweist sich Karl-Heinz Müllers russisches Talent ja tatsächlich als nützlich. Die Ampel schaltet auf Grün, Manni gibt Gas. Die Zeit läuft ihnen weg, sie müssen sich beeilen. Seine Unruhe ist nicht greifbar, nicht begründbar. Er lenkt sich ab mit Gedanken an die Pennerin, die sie vorhin entlassen haben. Für ihre obdachlosen Kollegen wird es heute ungemütlich. Polizeibeamte wirbeln ihre behagliche Welt durcheinander, in Heimen, Teestuben, Treffpunkten auf der Platte. Werden sie den ominösen Zeugen oder gar Mörder des S-Bahn-Fahrers so finden? Judith Krieger scheint das zu glauben.
Am Krankenhaus manövriert Manni den Dienstwagen in eine Miniaturparklücke direkt am Eingang, was die Russin zum Glück dazu bewegt, ihre Pelzkopfbedeckung auf dem Beifahrersitz zu lassen. Ihre Absätze klappern auf dem gefliesten Boden im Eingangsbereich, die schwere Tasche schlägt im Takt ihrer Schritte gegen die Knie. Während ihrer schweigsamen Fahrt hat Manni geglaubt, sie sei unsicher, doch sobald sie die Oberärztin begrüÃt hat, ist davon nichts mehr zu spüren. Inhalationstrauma, Bronchoskopie, Methämoglobinmessung, Trachotomie, Luftröhrenintubation. Die beiden Frauen schnattern im Fachkauderwelsch aufeinander ein, scheinen sich blendend zu verstehen. Schweigend trabt Manni hinter ihnen her, bemüht, die Erinnerungen an seinen Vater in Schach zu halten. Beinahe im Viertelstundentakt hatte seine Mutter ihn nach dem Streit am Krankenbett bekniet, sich wieder mit seinem Erzeuger zu versöhnen, damit der in Frieden sterben könne, aber Manni war zu sauer gewesen, hatte geglaubt, sie dramatisiere wie immer. Und er
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