Nacht ohne Schatten
es die plötzlich fehlende Schärfe in ihrer Stimme, die Ekaterina erkennen lässt, was sie schon längst hätte überprüfen müssen, auch wenn ein Erfolg dabei äuÃerst unwahrscheinlich ist. Du hast Angst, Katjuschka, deshalb kannst du nicht sehen. Wie ein böses Echo hört Ekaterina die Worte ihrer GroÃmutter, während sie das Gespräch mit der Kommissarin so schnell es geht beendet, sich anzieht und zum dritten Mal an diesem eigentlich freien Wochenende am Kanal entlang zum Institut hastet.
Es ist still dort, leer, die grünliche Notbeleuchtung verleiht den Fluren etwas Unwirkliches, als ob nun, in der Nacht, die Toten aus dem Keller das Kommando übernommen hätten, nicht mehr die Lebenden. Und vielleicht ist es ja wirklich so, wie ihre GroÃmutter sagt. Sie sind da, Katja, mitten unter uns, wenn sie noch etwas zu erledigen haben. Existieren in einer Zwischenwelt. Wir können sie nur nicht sehen. Ekaterina friert nach dem heiÃen Bad. Sie brüht Tee auf und öffnet dieHängeregistratur mit dem Schlüssel, den sie wie ihre Vorgängerin Antje Schmitt-Mergel in der obersten, ebenfalls verschlieÃbaren Schublade des Schreibtischs verwahrt. Sie legt das Foto der unbekannten Komapatientin neben sich auf ein Ablagetischchen. Sie ist schön und sie ist jung. Jünger als die Frau, die ähnliche Verletzungen an den Beinen hatte und sich Ines nannte. Ãberhaupt sind die meisten in der Kartei erfassten Patientinnen älter, soweit Ekaterina sich erinnern kann. Trotzdem vergleicht sie ein Foto nach dem anderen mit dem Bild der Komapatientin, notiert gewissenhaft, wenn sie auf ähnliche Verletzungssymptome stöÃt. Doch eine exakte Ãbereinstimmung gibt es nicht, und eine Frau, die der Komapatientin auch nur entfernt ähnelt, ist ebenfalls nicht registriert.
Ekaterina verschlieÃt die Registratur wieder und legt ihre Notizen in das Ablagekörbchen für die Berichte. Sie sollte nach Hause gehen, endlich Feierabend machen. Aber sie hat zu viel schwarzen Tee getrunken, und wenn sie schon mit den Frauen nicht weiterkommt, kann sie ebenso gut nochmals die Einstiche auf Wolfgang Bergers Rücken begutachten. Fleischermesser, Küchenmesser, Springermesser, Taschenmesser. Sie murmelt diese Bezeichnungen wie ein Gebet, während sie Berger aus seinem Kühlfach zieht und unter Aufbietung aller während ihrer Krankenhauspraktika erlernten Hebeltricks seitlich auf eine Metallbahre wuchtet. Das leise Quietschen der Räder übertönt das Summen der Klimaanlage. Ekaterina rollt die Bahre in den Obduktionsraum, schaltet die Untersuchungslampen ein und konzentriert sich auf Einstich Nummer fünf. Der Schatten, den sie in der Nacht zuvor entdeckt hat, ist ein bisschen dunkler geworden. Auch über Einstich Nummer acht ist jetzt die Andeutung eines Schattens zu erkennen, ebenfalls im rechten Winkel über dem Schnitt. Die Verfärbungen stammen vom Griff der Tatwaffe, es gibt keine andere Möglichkeit. Der Messergriff muss aufgrund der Wucht der Einstiche an einigen Stellen oberhalb der Wunden minimale Hautabschürfungen verursacht haben, die durch die mit dem Tod einhergehendeAustrocknung der Hautoberfläche nachgedunkelt sind und so erst nach der Obduktion zum Vorschein kamen.
Welches Messer hinterlässt solche Spuren? Sosehr Ekaterina auch überlegt, es fällt ihr nicht ein, und wahrscheinlich ist das der Grund, dass sie keinen Triumph fühlt, während sie die Wunden fotografiert und Berger erneut in sein Kühlfach bringt. Oben in ihrem Arbeitszimmer überspielt sie die Fotos auf ihren Rechner, bevor sie ihn herunterfährt, packt ihre Sachen zusammen und löscht das Licht. Wie wird Karl-Heinz Müller auf ihre eigenmächtigen Untersuchungen reagieren, die das von ihm bereits unterschriebene und an Kriminalpolizei und Staatsanwalt weitergeleitete Obduktionsergebnis um eine durchaus nicht unwichtige Facette erweitern? Soll sie sie lieber verschweigen?
Ekaterina presst die heiÃe Stirn ans Fenster. Es hat schon wieder zu regnen begonnen, und sie hat ihre Pelzmütze in der Eile des Aufbruchs zu Hause vergessen. Still und verlassen liegt der jüdische Friedhof vor ihr, wie Schemen erkennt sie die Grabmale im gedämpften Licht der StraÃenlaternen. Ein Fuchs löst sich von einem der Steine, hält inne und sieht zu Ekaterina hoch. Unfähig, sich zu bewegen, starrt sie ihn an. Der Fuchs ist ein Bote,
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