Nacht ohne Schatten
mit mir reden, und sie mag ihren graubärtigen Kollegen nicht, denkt Judith, während sie zu ihr aufschlieÃt. Oder sie mag nicht, was er über Nada zu sagen hat. TheodoraMarkus erreicht den Tisch, lehnt ihren Gehstock daran und füllt ein Weinglas. Judith nimmt das Glas und ein Stück Brot, prostet ihr zu.
»Nada ist also ein Star«, sagt sie, nachdem sie ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht haben.
»Sie ist âºinâ¹, wie man so sagt. Die Kritiker und Kuratoren lieben sie.«
»Mehr als die anderen Künstler hier.«
Theodora Markus lacht. »Wenn Sie es so zuspitzen wollen.
Ja.«
»Tut das nicht weh?«
»Geschmack ist wandelbar. Kunst bedeutet vor allem, bei sich selbst zu bleiben. Trotzdem. Immer wieder.«
»Was für eine Art Kunst macht Ihre Kollegin Nada? Was unterscheidet die von Ihrer?«
»Sie sind doch nicht hier, weil Sie sich für Kunst interessieren?«
»Vielleicht doch.« Judith trinkt noch einen Schluck Rotwein.
»Nada macht Konzeptkunst, Performances, arbeitet viel mit Fotografie. Ich selbst bin Bildhauerin.« Theodora Markus deutet auf die Flügelmodelle, die nun an groben Haken an der Wand hängen wie verstümmelte Engel. Wieder pocht eine Ader an Theodora Markusâ Schläfe. »Paul hat recht, Nada zieht sich manchmal zurück, und niemand weià so genau, wohin. Auch ich weià das nicht. Ich kann Ihnen wirklich nichts zu dem Mordfall sagen.«
»Mordfälle. Plural. Inzwischen ist hier um die Ecke auch noch die Pizzeria Rimini niedergebrannt, das haben Sie doch sicher bemerkt.«
Die Bildhauerin umfasst den Griff ihres Gehstocks fester, so dass die Fingerknöchel weià aussehen wie das Treibholz. »Schrecklich, ja. Ich habe es heute Morgen erfahren.«
»Es war Brandstiftung. Der Inhaber ist tot. Kannten Sie ihn?«
Theodora Markus schüttelt den Kopf. »Ich hab dort hin und wieder eine Pizza bestellt. Telefonisch.«
»Und wer hat die geliefert?«
»Irgendwelche Aushilfen, nehme ich an. Ich hab nicht drauf geachtet. War froh, dass ich nicht selber gehen musste.«
»Eine junge Frau hat dort in einem Kellerraum unter der Pizzeria gelebt.«
»Tatsächlich?« Theodora Markusâ Augen sind unnatürlich hellblau im Kontrast zu ihrem schwarzen Haar, das sie zu einem straffen Pferdeschwanz aus dem Gesicht gebunden hat. Um Mund und Augen haben sich Linien eingegraben, wie Risse in Pergamentpapier. Das Haar muss gefärbt sein, sie ist sicher schon fünfzig, wenn nicht älter, wird Judith bewusst, und unwillkürlich fragt sie sich, ob die Künstlerin auch einmal ein Star war, dem die Kritiker zu FüÃen lagen, und wie es sich anfühlen muss, von einer jüngeren Kollegin aus dem Licht des Erfolgs verdrängt zu werden.
»Thea, kommst du mal?« Eine grauhaarige Frau in grellroter Kleidung tritt auf sie zu.
Theodora Markus entschuldigt sich bei Judith und folgt der rot Gewandeten, um einen Gast zu verabschieden. Judith trinkt noch einen Schluck Wein und mustert die anderen Anwesenden, die in kleinen Grüppchen zusammenstehen, aufeinander einreden und sich dabei ganz offensichtlich hervorragend amüsieren. Einige tragen noch farbverschmierte Overalls, andere sind so unscheinbar gekleidet, dass man sie für Sachbearbeiter im Finanzamt halten könnte. Wieder andere inszenieren sich selbst und ihr Outfit als Gesamtkunstwerk. Es muss Konkurrenz und Begehrlichkeiten zwischen diesen so grundverschiedenen Mietern der Ateliers geben, Streit und Neid, auch wenn im Augenblick nichts davon zu spüren ist. Wie aber hängt das mit den Morden in der Nachbarschaft der Kunstfabrik zusammen? Wie sollte aus internen Rangeleien zwischen Künstlern ein Motiv erwachsen, erst einen S-Bahn-Fahrer und dann einen Pizzabäcker zu ermorden?
Ich vergeude meine Zeit, denkt Judith und stellt ihr leeres Glas in eine dafür vorgesehene Plastikwanne unter dem Werktisch. Diese Ateliers hier bilden eine eigene Welt, die nur durch ihre geografische Lage in Berührung mit zwei Verbrechen geraten ist. Es gibt hier nichts, was mich weiterbringen kann, nur neue Fragen, die ich nicht beantworten kann und auch nicht beantworten muss. Die Pennerin fällt ihr ein, das dunkle Verlies im Bahndamm, nicht weit von hier, das für diese namenlose Frau Sicherheit bedeutete, nein, mehr noch: Heimat. Ist sie manchmal an den Gleisen entlanggeschlichen, hat zu den Ateliers
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