Nacht ohne Schatten
Grund seit Ermittlungsbeginn in Sachen S-Bahn-Mord mehr und mehr zu einem Minenfeld wird.
»Negativ«, sagt Manni, als Judith die Tür des Vernehmungszimmershinter sich zugezogen hat. »Die Fingerabdrücke auf den Schuhen des S-Bahn-Fahrers stammen definitiv nicht von ihr.«
»Wissen wir inzwischen, wer sie ist?«
»Keine Papiere bis jetzt. Und auch nix in der Kartei.«
Judith tritt an den Spiegel, durch den sie die Frau im Vernehmungszimmer beobachten kann, ohne dass diese es bemerkt. Wir wissen nicht einmal, wie alt sie ist, denkt sie. Fünfzig oder sechzig, älter oder jünger, es ist unmöglich, das zu sagen.
»Was ist mit dem Zeugen?«
»Kommt morgen früh um acht zur Gegenüberstellung. Bis dahin sind auch die Spurensicherer durch.«
»Also behalten wir sie über Nacht hier.«
»Millstätt hat das schon veranlasst.«
»Das wird ihr nicht gefallen.«
»Ich würde eine beheizte Arrestzelle diesem Bahndammloch vorziehen.«
»Du.«
Die Frau im Vernehmungszimmer leert nun, da sie allein ist, Zuckertütchen in ihren Kaffeebecher und fällt über das Sandwich her. Hastig wie eine StraÃenkatze. Jederzeit bereit, vor etwaigen Tritten zu fliehen.
»Alte Vettel«, sagt Manni nachdenklich. »Sehr dankbar ist sie dir für deine Bemühungen ja nicht.«
»Vielleicht meint sie gar nicht mich, sondern sich selbst.«
»Wer weiÃ.« Manni sieht plötzlich so müde aus, wie Judith sich fühlt, und einen Moment lang ist die alte Verbundenheit wieder da. Vielleicht ist die Frau eine Mörderin. Vielleicht hat sie etwas gesehen, vielleicht nicht. Vielleicht will oder kann sie das niemals sagen. Und mit Sicherheit â das jedenfalls hat die nachmittägliche Durchsuchung des Geländes ergeben â ist sie nicht die einzige Obdachlose, die in der Nähe der S-Bahn-Haltestelle Gewerbepark einen Unterschlupf hat.
»Ich versuchâs noch mal.« Judith geht zurück ins Vernehmungszimmer, setzt sich der Obdachlosen gegenüber. DerenKörperausdünstungen scheinen während Judiths Pause auf dem Flur intensiver geworden zu sein. Es riecht nach fauligem Fisch. Bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, dreht Judith sich eine Zigarette.
»Rauchen Sie?«
Die Frau schafft es nicht, ihre Gier zu verbergen. Judith schiebt ihr Tabakpäckchen in die Mitte des Tischs. Die Frau reiÃt es an sich, dreht sich geschickt eine hauchdünne Zigarette, lässt den Tabak danach in den Falten ihrer Kleidung verschwinden und bedenkt Judith dabei mit einem für den Bruchteil einer Sekunde wachen und listigen Blick. Judith gibt ihr Feuer, ohne das Feuerzeug aus der Hand zu geben, und ein paar Züge lang rauchen sie schweigend, ja beinahe einvernehmlich. Jetzt weiÃt du, wie es ist. Ohne Vorwarnung sind die Worte aus dem Traum wieder da, so nah, so intensiv, dass es schmerzt.
Die Obdachlose bläst Judith Zigarettenrauch ins Gesicht. Ohne ein Wort, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Judith vergewissert sich, dass das Aufnahmegerät funktioniert. Waren Sie vor zwei Nächten an der Haltestelle Gewerbepark? Haben Sie den Mord an dem S-Bahn-Fahrer beobachtet? Irgendetwas, irgendwen? Ein Haus ist niedergebrannt, letzte Nacht, eine Pizzeria. Haben Sie das denn gar nicht bemerkt?
Die Obdachlose schweigt beharrlich, ja, es erscheint keinesfalls sicher, dass sie die Fragen überhaupt hört. Es hat keinen Sinn, denkt Judith. Ich vergeude meine Zeit, jedenfalls solange wir nichts Konkretes in der Hand haben. Dreizehn Plastiktüten mit diversen Habseligkeiten haben die Spurensicherer aus dem Bahndammversteck geholt, doch laut Mannis Bericht scheint sich darin weder eine Tatwaffe noch irgendetwas anderes zu befinden, das die Besitzerin der Tüten mit den Morden in Verbindung bringt.
Die Obdachlose dreht sich eine weitere Zigarette.
»Feuer«, sagt sie und streift Judith mit einem auffordernden Blick.
»Ja, Feuer.« Judith lässt ihr Feuerzeug aufschnappen, ohne die Zigarette der Frau anzuzünden. »Feuer in der Pizzeria Rimini. Ein Mann ist dort ums Leben gekommen, Luigi Baldi, der Inhaber. Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie etwas gesehen haben.«
Einen Moment lang sieht es beinahe so aus, als wolle die Frau etwas Konstruktives sagen. Dann rülpst sie und lässt die Zigarette in ihrer Kleidung verschwinden.
»ScheiÃkanaken«, sagt sie. Und das ist alles, was
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