Nacht ohne Schatten
hatte andere Sorgen gehabt, er hatte den Fall lösen wollen, den verschwundenen Jungen finden, und dann war es zu spät gewesen.
Am Eingang der Intensivstation müssen sie ihre Jacken gegen hellgrüne OP-Hemden tauschen und streifen gleichfarbige Hosen, Schuhschoner und Mundschutz über. Das Komamädchen liegt viel zu reglos in den Kissen, eingekesselt von diversen Maschinen, die dezent summen und fiepen. Ein durchsichtiger Schlauch führt in ihre Kehle, sie wird also noch immer künstlich beatmet. Ein schönes Mädchen, wahrscheinlich noch nicht einmal achtzehn. Heute Abend wird ihr Foto in den Lokalnachrichten gezeigt, morgen früh in den Zeitungen abgedruckt. Wird jemand sich melden, sie wiedererkennen, ihre Geschichte erzählen? Nein, denkt Manni, so wird es nicht sein, und dieses Wissen, das er nicht begründen kann, schürt seine Unruhe noch mehr.
Die Oberärztin winkt sie weiter, zurück auf den Flur, in ihr Büro.
»Wie geht es ihr?«, fragt Manni, bevor die beiden Frauen erneut zu fachsimpeln beginnen.
Die Oberärztin wühlt in den Ablagekörbchen ihres Schreibtischs. »Ihr Kreislauf ist stabilisiert. Wir beatmen sie mit Sauerstoff, hoffen, das Kohlenmonoxid im Blut so vollständig zu binden. Sie hat eine sehr schwere Rauchvergiftung erlitten, eine ganze Reihe von durch den Brand freigesetzten Schadstoffen eingeatmet.«
»Und das heiÃt was?«
Die Oberärztin richtet sich auf, sieht Manni direkt in die Augen. »Ich kann leider nicht eindeutig prognostizieren, wie es weitergeht.«
»Sie kann einen Hirnschaden haben«, meldet sich die Petrowa zu Wort.
Die Oberärztin nickt. »Wir wissen leider nicht, wie lange sie in diesem Keller den Rauchgasen ausgeliefert war.«
»Aber es könnte auch sein, dass sie gesund wird?« Die Vorstellung, dass der schöne Körper des Mädchens nicht mehr ist und niemals mehr sein wird als eine Hülle, macht Manni nervös, obwohl er in den Jahren bei der Polizei wahrlich genug ScheiÃe zu sehen bekommen hat.
»Erwarten Sie nicht zu viel.« Die Oberärztin hat nun endlich gefunden, was sie suchte, kommt hinter dem Schreibtisch hervor und heftet Röntgenaufnahmen auf die Lichtkästen an der Wand.
»Bitte, Frau Kollegin«, sagt sie zur Petrowa und verzieht sich dann erneut hinter ihren Schreibtisch.
Wie ein Tier, das Witterung aufnimmt, tritt die russische Rechtsmedizinerin an die Leuchtkästen heran. Sie scheint alles andere um sich herum zu vergessen, ist vollkommen auf die Analyse konzentriert, kneift die Augen zusammen, tritt vor, zur Seite, wieder zurück. Nach etwa einer Minute bleibt sie stehen, tippt mit dem Fingernagel auf eine der Aufnahmen und reiÃt die grün ummalten Augen auf.
»Sehen Sie mal.«
Die Gummisohlen der Oberärztin quietschen auf dem PVC-Boden, als sie erneut hinter ihrem Schreibtisch hervorkommt.
»Mein Gott«, sagt sie, als sie neben der Petrowa steht. »Wer hatte denn am Wochenende Dienst? Warum hat das denn noch niemand bemerkt?«
»Kann mich bitte mal jemand aufklären?« Manni positioniert sich dicht hinter die beiden Ãrztinnen, die irgendetwas von Verkalkung faseln und dabei einen verschwommen-verästelten Fleck auf der Röntgenaufnahme fixieren. Ein Fleck im unteren rechten Lungenflügel, sofern Mannis anatomische Kenntnisse ihn nicht täuschen. Ein Hauch süÃliches Parfum steigt ihm in die Nase, ohne dass er entscheiden könnte, welche der beiden Frauen es benutzt. Wahrscheinlich die Russin.
Als habe sie seine Gedanken gehört, dreht sich die Petrowa zu Manni herum und mustert ihn.
»Sie hat Tbc«, verkündet sie nach einer Kunstpause. »Tuberkulose. Eine ältere Infektion, nicht akut, aber auch nicht völlig ausgeheilt.«
»Ich dachte, Tuberkulose gibt es nicht mehr.«
»Nicht in Deutschland«, erklärt die Oberärztin. »Doch in ärmeren Ländern sehr wohl.«
»Ukraine. WeiÃrussland«, sagt die Petrowa. »Russland natürlich.« Und obwohl sie von ihrer Heimat spricht und noch dazu Karl-Heinz Müllers hohe Meinung von ihren Fähigkeiten eindrücklich unter Beweis gestellt hat, sieht sie alles andere als glücklich aus.
* * *
In der Nacht hat sie wieder den Traum gehabt. Schwebte allein in fast abstrakter Leere, die Landschaft unter ihr weit und verödet, die Sehnsucht nach Leben übergroÃ. Jetzt weiÃt du, wie es
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