Nacht ohne Schatten
sehr früh«, sagt Ekaterina eindringlich. »Wenn Sie jetzt mit mir kommen, sind wir allein.«
»Nein! Nicht dort.«
»Wir sind allein im Institut. Und alles, was Sie mir sagen, unterliegt selbstverständlich der ärztlichen Schweigepflicht.« Ekaterina bemüht sich, der Frau neben sich in die Augen zusehen, ihr Vertrauen zu erwerben, alles richtig zu machen. Es funktioniert nicht. Die Frau weicht ihrem Blick aus, schüttelt den Kopf. Ich kann das nicht, denkt Ekaterina. Ich bin für die Toten geeignet, nicht für die Lebenden. »Ich möchte Sie gern noch einmal untersuchen«, sagt sie trotzdem. »Ihre Unterwäsche war neulich voller Blut.«
»Mir geht es gut.« Die Frau springt auf, mit weit mehr Energie, als die letzten Minuten es vermuten lieÃen.
»Woher stammte das Blut?«
»Ich muss jetzt gehen.« Die Frau beginnt zu laufen, überraschend kraftvoll und schnell. Wut packt Ekaterina, sie rappelt sich auf, hastet hinter Ines her. Doch ihre FüÃe sind kalt und ihre Beine zu kurz, um dieses Wettrennen zu gewinnen, und die hohen Absätze ihrer Westernstiefel behindern sie zusätzlich. Dann ist Ines verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, ganz so, als hätte es sie nie gegeben, ganz so, als hätte Ekaterina sich die frühmorgendliche Begegnung nur eingebildet. Ungläubig dreht sie sich um ihre Achse. Lauscht. Ruft. Wartet. Aber es gibt keine Antwort, sie ist allein, allein mit dem entfernten Summen des Autoverkehrs und den schlafenden Schwänen. Ekaterina beginnt zu laufen, zurück auf den Hauptweg, dann zum Institut. Es ist eine Kapitulation, nein, mehr noch, eine Flucht.
Nur den Erinnerungen an die Insel im weiÃen Meer kann sie nicht davonlaufen. Erinnerungen an die harten, schwieligen Hände des Vaters, die ihr die Hände von den Ohren reiÃen, im Wald, am Meer und in dem zugigen Holzhaus, das sie bewohnen. Du hörst nichts, Katja, du hörst nichts, du siehst nichts, da ist nichts, du bildest dir das ein! So lange, bis sie nickte, klein beigab, ein ums andere Mal. Ja, du hast recht, Papa, alles ist gut.
Aber die Birken haben trotzdem geweint. Und Ekaterinas Mutter auch.
* * *
Manni hat geglaubt, dass er früh dran ist, doch als er um kurz nach halb sieben im Präsidium ankommt, blubbert die Kaffeemaschine schon, und aus dem Kabuff am Ende des Ganges, das Judith Krieger seit einem halben Jahr als Hauptquartier dient, fällt Licht auf den spärlich beleuchteten Flur. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und fixiert ihren Computermonitor wie das sprichwörtliche Kaninchen die Schlange. Hektisch klickt sie den Bildschirm dunkel, als sie Manni bemerkt. Trotzdem hat er noch erkennen können, was sie so faszinierte: Fallschirmspringer im freien Fall, die einen Kreis bilden und lachen.
»Sieht geil aus.« Manni lehnt sich an den Türrahmen, den ad hoc einzig verfügbaren freien Platz, denn auf Boden, Schreibtisch und auf dem Besucherstuhl seiner Kollegin türmen sich Akten und Asservate.
»Geil.« Sie langt nach ihrem Tabak und lächelt säuerlich. »Du bist früh dran.«
»Du auch.«
Ohne auf diese Feststellung weiter einzugehen, bettet die Krieger ein Filterstückchen in ein Zigarettenpapier und bröselt Tabak dazu.
»Die Tatwaffe könnte ein kleinerer Hirschfänger mit Griffschutz sein, so âne Art Bowiemesser für Anfänger«, bringt Manni seine neuste Erkenntnis vor, weil ihm aus Erfahrung klar ist, dass Judith Krieger das entstandene Schweigen nicht brechen wird.
Sie hebt fragend eine Augenbraue, während sie sich das Ergebnis ihrer Fummelei zwischen die heute ungeschminkten Lippen schiebt.
»Ich war gestern noch in so ânem Jagdbedarfladen«, erklärt Manni. »Nachdem ich im Baumarkt war. Der als Quelle für das Messer, das wir suchen, definitiv nicht in Frage kommt. Und selbst wenn, das kannst du vergessen, dass jemand sich an einen einzelnen Käufer erinnert.«
Judith Krieger lässt ihr Feuerzeug aufschnappen und entzündet ihren Glimmstängel. »Du bist also doch noch hingegangen.«
Manni nickt. Höchstpersönlich hat er diesen Botengang absolviert, doch statt dies nun anzuerkennen, stöÃt seine Kollegin lediglich Rauch aus den Nasenlöchern und sieht an ihm vorbei zum Fenster hin.
»Irgendwas im Zusammenhang mit dem Messer weià ich oder hab es gesehen und komm doch nicht drauf, egal, wie sehr ich mir
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