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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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verscharrt, der in Nischnij Tagil nun beschönigend Friedhof der Bräute heißt. Ekaterina stopft die
Prawda
zum Altpapier, greift zur
FAZ.
Selbst hier wird die russische Nachricht aufgegriffen. Einer der geständigen Täter saß bereits wegen Vergewaltigung in Haft. Auch die Knochen seiner ältesten, fünfzehnjährigen Tochter lagen auf dem Friedhof der Bräute, doch seine Ehefrau verlässt ihn trotzdem nicht, besucht ihn mit den jüngeren Töchtern im Gefängnis. Sagt, dass die toten Mädchen im Wald eben Huren waren.
    Ekaterina spült ihr Frühstücksgeschirr und putzt sich die Zähne, weitaus kraftvoller, als nötig wäre. Sie denkt an das arrogante Lächeln der Kommissarin Krieger, als ihr blonder Kollege vom Tbc-Befund der Komapatientin berichtete. Russland, na klar, dann muss sie ja eine Prostituierte sein, besagte dieses Lächeln, jetzt weiß ich Bescheid. Aber die Wahrheit ist, dass die Kommissarin sich nicht einmal im Ansatz vorstellen kann, was es heißt, in einem Land zu leben, das trotz seiner schier endlosen Weite zu eng ist, wund, verstümmelt, ausgeblutet von den Kriegen und von einer Diktatur, die Bildung, Hoffnung und Menschlichkeit so gründlich vernichtete, dass der Kapitalismus wie eine Urgewalt über das Land hereinbrechen konnte.
    Ekaterina trägt Make-up und Lippenstift auf. »Gar nichts weißt du von Russland, Judith Krieger«, sagt sie zu ihrem Spiegelbild, als sie fertig ist, und merkt erst jetzt, dass das Rotorange ihrer Lippen überhaupt nicht zu ihrem rosafarbenen Pullover passt. Sie wischt sich mit einem Wattebausch über den Mund, findet den passenden Lippenstift, starrt sich ins nun perfekt geschminkte Gesicht, für einen Moment den Tränen nah. Sie würde ihr Land gern verteidigen, sagen, dass es trotz allem auch Gutes dort gibt, Menschen wie ihre Großmutter, die Frauen, die sich wieder in die Kirchen trauen, und ihre Gesänge, die Stille und die Banja am See, aber es ist vergebens, die andere Wirklichkeit ist stärker, und Ekaterina weiß, dass sie ihr nichts entgegenzusetzen hat.
    Draußen auf der Straße schreitet sie kräftig aus, wählt, ohne nachzudenken, den Weg zum Kanal. Der gestrige Tag ist ohne Kontakt zu den Kommissaren vergangen, weil sie auf Wunsch Karl-Heinz Müllers den ganzen Tag mit einer Selbstmörderin beschäftigt war, die sich vor einen Zug geworfen hatte. Ein ruhiger Tag war das gewesen, arbeitsam, effizient, und die nagende Ahnung, dass dies ein trügerischer Frieden ist, hat Ekaterina rigoros beiseite gedrängt, selbst abends noch, als sie die Komapatientin im Krankenhaus besuchte, deren Zustand unverändert kritisch ist. Sie erreicht den Kanal, verlässt den gekiesten Gehweg und tritt ans Wasser. Majestätisch und geräuschlos gleiten die Schwäne auf sie zu, mystische weiße Schemen, beinahe sieht es so aus, als wollten sie Ekaterina begrüßen, als reagierten sie auf eine Botschaft, die sie ausgesandt hat, ohne sich dessen bewusst zu sein.
    Â»Ich habe gewusst, dass ich Sie hier treffe.«
    Die Worte sind wie ein Eishauch und so nah, dass Ekaterina vor Schreck ganz starr wird, wie ein in die Enge getriebenes Tier. Langsam, wie in Trance, dreht sie sich zu der Sprecherin um. Die steht direkt hinter ihr, groß und schlank, merkwürdig vertraut, und dass Ekaterina sie nicht hat kommen hören, ängstigt sie noch mehr. Ines. Ihre Augen glänzen fiebrig immattgelben Schein des Laternenlichts, das durch die kahlen Äste einer Kastanie sickert.
    Â»Was machen Sie hier?« Ekaterina hört ihre eigene Stimme wie von weit her.
    Â»Sie müssen mir helfen.«
    Â»Dann müssen Sie einen Termin vereinbaren und ins Institut kommen.«
    Die hochgewachsene Frau schließt die Augen, öffnet sie wieder, scheint einen Moment lang das Gleichgewicht zu verlieren. »Das geht nicht. Niemand darf mich sehen.«
    Â»Kommen Sie erst mal weg vom Kanal.« Ekaterina fasst die Frau am Oberarm. Ein Jammerlaut ist die Antwort. Die Frau taumelt rückwärts, hält sich den Arm.
    Â»Er schlägt Sie immer weiter«, sagt Ekaterina. »Auf die Arme, auf die Beine, auf Rücken und Bauch. Lauter Stellen, wo es wehtut, die man aber unter der Kleidung nicht sieht, nicht wahr?«
    Die Frau, deren Nachnamen Ekaterina noch immer nicht kennt, erschauert fast unmerklich. »Ich habe überlegt, zu dieser Organisation zu gehen, Frauen

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