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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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trinkt die feuchte Nachtluft in gierigen Zügen, als sie endlich auf der Straße steht. Aber zu Hause kommen die Gedanken an das bewusstlose russische Mädchen zurück, und in Judiths Bett liegt immer noch die Tarotkarte Prinz der Kelche, der ein besseres Leben verspricht, ein leichteres, wenn sie sich nur dem Verlangen hingibt, das angeblich irgendwo tief in ihr darauf wartet, befreit zu werden, das angeblich Glück bringt, nicht Verderben. Entnervt räumt Judith die Tarotkarten beiseite, öffnet eine Flasche Kölsch, setzt sich im Wohnzimmer auf die Fensterbank. Sie hatte bei der Weihnachtsfeier kein Los kaufen wollen, sich dann doch von den Kollegen überreden lassen, für einen guten Zweck. Sie hatte sich darauf verlassen, dass sie sowieso eine Niete ziehen würde. Nun wartet das ganze Polizeipräsidium darauf, dass sie ihren Hauptgewinn einlöst.
    Ich werde springen, entscheidet sie, als sie die zweite Flasche Kölsch geöffnet hat und eine weitere Zigarette dreht. Es wird schon gehen, ich werde das schaffen und wahrscheinlich sogar überleben, wie all die Tausenden Verrückten vor mir auch. Und wahrscheinlich wird der Sprung an sich gar nicht so schlimm sein, nicht so schlimm jedenfalls wie die Tage davor, die Nächte davor, die Stunden davor und vor allem nicht so schlimm wie die Minuten, wenn das Flugzeug mit mir in den Himmel steigt, Kilometer um Kilometer, bis sich schließlich die Absprungrampe öffnet und ich die Kraft aufbringen muss, ach was, den Wahnwitz, gegen alle meine Instinkte zu verstoßen und mich in den Himmel fallen zu lassen – ohne Halt, ohne Umkehrmöglichkeit.

2 . T EIL
    Traum
    there was a silver tree
    down by a river wide
    that’s where we would go
    to hang our pretty things
    & watch the wind blow
    WE WERE SPARKLING
    My Brightest Diamond

Mittwoch, 11. Januar
    Der Wind ist abgeflaut und kommt jetzt von Norden. Er hat Kälte mitgebracht, Sehnsucht nach Prirechnij, dem Dorf am See, eine Ahnung von Winter, auch wenn das Thermometer auf Ekaterinas Balkon immer noch fünf Grad plus anzeigt. Sie zieht den Flanellbademantel enger um sich, geht zurück in ihre Küche, wo der Haferbrei inzwischen fertig gequollen ist. Sie ist um 4:30 Uhr aufgewacht, noch bevor ihr Wecker geklingelt hat. Etwas kommt näher, denkt sie. Etwas, das ich noch nicht benennen kann und auch nicht benennen will. Etwas, das nicht existieren dürfte. Sie steht ein paar Sekunden lang sehr still und lauscht, schüttelt dann unwillig den Kopf. Hör auf, Gespenster zu sehen, reiß dich zusammen. Aus den anderen Wohnungen und von der Straße erklingt kein Laut.
    Ekaterina füllt einen Tonbecher mit Tee und löffelt ihren Haferbrei. Sie blättert durch die
Prawda
und verzieht angesichts all der Schönfärbereien unwillkürlich das Gesicht. Der Kreml ist stark, der Kreml ist gut. Die Wirtschaft blüht, dem russischen Volk geht es so gut wie nie. Aber nicht den Verlierern und nicht den Alten, die wie Ekaterinas Großmutter ihr Leben lang geschuftet haben und deren Monatsrente nun trotzdem kaum mehr als umgerechnet 35 Euro beträgt, wenn sie überhaupt eine bekommen, während die Preise in manchen Läden mittlerweile das Westniveau überschreiten und in den Städten das Faustrecht regiert. Wer es sich leisten kann, kauft sich in Moskau für ein paar 10 000 Euro die Lizenz für ein Blaulicht, damit er die ewigen Staus auf der Überholspur hinter sich lassen kann. Ekaterina macht sich eine Notiz in ihren Kalender, neues Geld für die Großmutter anzuweisen.Sie trinkt eine zweite Tasse Tee, überfliegt die vermischten Meldungen, bleibt an einer über Nischnij Tagil hängen. Fünfzehn Mädchenleichen hat man in einem Birkenwald nahe der 400 000 -Einwohner-Stadt im Ural ausgegraben, die einst das stolze Zentrum sowjetischer Panzerproduktion war. Junge Mädchen, die von einem Zuhälterring systematisch gefangen worden waren. Jahrelang hatten die Behörden die Hinweise und Vermisstenmeldungen ignoriert.
    Es sollte ein großes Geschäft werden, planten die sechs Täter, Handel mit Sexsklavinnen, vielleicht sogar international. Aber etwas war schiefgegangen, einige Mädchen ließen sich nicht brechen, oder sie gingen zu schnell kaputt oder zu sehr, oder sie erschienen ihren Peinigern nach den ersten Vergewaltigungen ganz einfach nicht gut genug, und so hatten sie sie erwürgt und im Wald

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