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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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wird.
    Â»Bodenschätze«, erklärt sie. »Nickelerz. Das ist der Grund, warum die Kolahalbinsel überhaupt besiedelt ist. Von überall her aus der Sowjetunion sind die Menschen auf die Kolahalbinsel gekommen, junge Menschen, die hart arbeiten wollten und dafür den sogenannten Polarzuschlag erhielten, den doppeltenLohn. Auf Sand und Eis haben sie sich nach und nach ein neues Leben erschaffen. Häuser, Schule, Spielplätze, Läden gebaut, und der Staat hat das unterstützt. Selbst im kleinen Prirechnij entstand ein Kulturzentrum. Es war ein hartes Leben, aber es war gut. Geordnet.«
    Â»Und jetzt ist es das nicht mehr«, sagt Judith Krieger.
    Â»Nach dem Zerfall der UdSSR wurden viele Minen geschlossen, wegen mangelnder Rentabilität. Es gibt jetzt keinen Polarzuschlag mehr. Überhaupt keinen Lohn und auch keine Rente.«
    Â»Und die Menschen?«
    Â»Wer eine Möglichkeit hat, zieht aus dem Norden weg. Ein paar sind geblieben und versuchen klarzukommen.«
    Die Kommissarin hebt fragend eine Augenbraue.
    Â»Fischen, jagen, ein bisschen Gartenbau, sobald es taut«, präzisiert Ekaterina und wünscht sich plötzlich zu ihrer Großmutter in die Kate am See. Manchmal, wenn sie innehält, vermisst sie die Stille dort. Die alte Sprache, in der die Großmutter die Natur besingt, ihre samischen Joiks, ja sogar das Summen der Mücken. »Manche haben auch Ersparnisse oder Verwandte, die Geld schicken. Das Problem ist, dass die Menschen keine Heimat mehr haben. Auf der Kolahalbinsel nicht, weil zu viele gegangen sind. Und auch dort nicht, wo sie einst herkamen und nun nur noch Fremde sind.«
    Â»Menschen zerbrechen«, sagt Judith Krieger leise, fast so, als spräche sie mit sich selbst.
    Â»Nicht alle Menschen«, widerspricht Ekaterina und fühlt die altbekannte Dankbarkeit gegenüber ihrer Großmutter. Dies ist unsere Heimat, hatte sie ihrer Enkelin ein ums andere Mal erklärt, nachdem Ekaterina von der Insel zu ihr gekommen war. Ein sechsjähriges Mädchen, das erst wieder lernen musste zu sprechen, zu sehen, zu hören, zu fühlen und, vor allem, all diesen Sinneswahrnehmungen zu trauen. Dies ist unsere Heimat, das Land unserer Ahnen. Wenn du hier weggehst, dann weil du es willst, aus keinem anderen Grund. Auf einmal fühlt Ekaterinasich wie eine Nestbeschmutzerin. »Die Menschen gehen auch anderswo kaputt«, sagt sie und rührt in ihrem Tee.
    Â»Was ist mit den Frauen?« Wie zu erwarten, lässt Judith Krieger sich durch Allgemeinplätze nicht ablenken.
    Â»Sie arbeiten. Sie versuchen zu hoffen. Sie sorgen für die Alten und die Kinder und für ihre Männer.«
    Â»Und was tun die?«
    Â»Alkohol ist ein Problem.« Ekaterina kämpft die Erinnerungen an ihren Vater nieder. »Gewalt«, fügt sie leise hinzu, bemüht, ihrer Stimme die sachliche Autorität der Ärztin zu verleihen. »Aber all das gibt es in Deutschland auch.«
    Judith Krieger sieht auf ihre Armbanduhr. »Ich muss gleich los. Ich hab eine Vernehmung mit einem Tatverdächtigen, der behauptet, den Täter im Fall Wolfgang Berger gesehen zu haben. Er beschreibt einen Mann, zwischen 1,80 und 1,85 Meter groß, könnte das sein?«
    Ekaterina geht zu ihrem Computer, ruft die Datei mit dem Sektionsbericht auf. Sofort fühlt sie sich kompetent. »Wolfgang Berger ist 1,81 Meter groß. Von den Einstichwinkeln her käme das hin.«
    Judith Krieger tritt neben sie, betrachtet die Fotos. »Deine Analyse der Stichwunden war wirklich gute Arbeit.«
    Ekaterina nickt. Es sind die Lebenden, die ihr Probleme bereiten, nicht die Toten. »Ich versuche immer wieder, ein Muster in der Reihenfolge der Stiche zu erkennen, aber es gibt keins.«
    Â»Es muss einfach eine Beziehung zwischen Täter und Opfer geben«, sagt Judith Krieger.
    Â»Vielleicht ging es um Rache.«
    Â»Das habe ich auch schon überlegt. Aber warum dann eine Nacht später der Anschlag auf die Pizzeria? Was verbindet Berger und Baldi? Was hat die Komapatientin damit zu tun?«
    Etwas beginnt in Ekaterinas Hinterkopf zu rumoren, irgendeine Sache, die ihr in den letzten Tagen untergekommen ist. Ungeduldig klickt sie durch die Sektionsfotos. »Gibt es eigentlich schon neue Hinweise auf das Messer?«
    Die Kommissarin schüttelt den Kopf. »Wir ermitteln wie verrückt, und alles, was bislang dabei herauskommt, sind neue Fragen. Die neueste

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