Nacht ohne Schatten
instinktiv.
»Es ist nicht sicher«, echot die Kommissarin, ohne den Blick von Ekaterina zu wenden. »Aber du sprichst Russisch zu ihr.«
Abrupt dreht Ekaterina sich wieder zur Spüle und beginnt zwei Teetassen zu reinigen. Die Kommissarin hat ihr nachspioniert. Jemand hat geplaudert. Die Oberärztin oder eine Stationsschwester. Hat Judith Krieger sich auch bei Frauen für Frauen über Ekaterina erkundigt? Hat diese Ines sich doch noch über sie beschwert? Ekaterina trocknet die Teetassen ab, dreht sich wieder um, entschlossen, sich nicht kampflos geschlagen zu geben. Die Kommissarin hat ihre Position am Aktenschrank nicht verändert.
»Erzähl mir von Russland«, fordert sie jetzt.
»Man darf diese Frauen nicht verurteilen.« Ekaterina schenkt Tee ein und stellt die Tasse für die Kommissarin auf den Aktenschrank. Viel zu heftig, der heiÃe Tee schwappt über ihre Hand. Sie beiÃt die Zähne zusammen, bedauert einmal mehr, dass sie trotz ihrer hochhackigen Lack-Cowboystiefel gezwungen ist, zu Judith Krieger aufzusehen.
»Darum geht es doch gar nicht, Katja.«
»Ekaterina bitte.« Das klingt viel zu ruppig, eine Tatsache, die der Kommissarin natürlich nicht entgeht. Sie ist wirklich gefährlich, denkt Ekaterina, sieht zu viel, hört zu viel, gibt nicht auf.
Die Kommissarin akzeptiert Ekaterinas Bitte mit einem Nicken. »Ich will nicht, dass diese junge Frau alleine stirbt«, sagt sie dann. »Sie muss eine Familie haben. Ein Zuhause. Aber wenn ich das Land nicht verstehe, aus dem sie stammt, wie will ich dann begreifen, was ihr widerfahren ist? Wie kann ich die Verantwortlichen finden?«
»Es ist nicht erwiesen, dass sie auf den Strich gegangen ist«, sagt Ekaterina. »Die Hämatome allein sind sehr unspezifisch. Wie ich schon sagte: Sie können auch die Folge sehr heftigen Geschlechtsverkehrs oder einer Vergewaltigung sein.«
»Natürlich.« Die Augen der Kommissarin funkeln gefährlich. »Vielleicht hat ihr das sogar Spaà gemacht. Aber ich glaube das nicht, und du glaubst das auch nicht.«
Soll sie Ines erwähnen? Die identischen Verletzungen auf den Innenseiten ihrer Oberschenkel, dort, wo die Haut am zartesten ist? Natürlich nicht. Sie hat nichts mit der Komapatientin zu tun.
»Hast du Kontakt mit Russen hier in Deutschland? Kennst du jemanden, der unsere Patientin kennen könnte?«
Ekaterina schüttelt den Kopf.
»Erzähl mir von deiner Heimat«, bittet Judith Krieger wieder, ohne nachzufragen, warum Ekaterina ihre in Deutschland lebenden Landsleute meidet.
»Prirechnij, ein Dorf auf der Kolahalbinsel«, antwortet Ekaterinawiderstrebend. »Die Kolahalbinsel ist quasi das Hinterteil des skandinavischen Löwen, ganz oben im Norden.«
»Der Hintern des Löwen«, wiederholt die Kommissarin.
»Es gibt da nicht viel«, erklärt Ekaterina weiter. »Lange, kalte, dunkle Winter. Taiga.« Birkenwälder, ergänzt sie stumm. Freundliche Bäume, ganz anders als auf der Insel im weiÃen Meer. Die groÃe Weite, in der einst das Volk der Sami umherzog, weit über die Grenzen zu Finnland, Norwegen und Schweden hinaus. Bis die Grenzen sich schlossen und die russischen Sami von ihren Verwandten in den Nachbarländern getrennt waren, um dann zu
modernen, zivilisierten
Menschen geformt zu werden, in Lager gesperrt, ihrer Sprache beraubt und damit ihrer Identität. Das ist natürlich nicht nur in Russland geschehen, denn ein Nomadenvolk mit Freigeistern und Schamanen war keiner Zivilisation willkommen, doch Stalins Schergen waren bei ihrer Vernichtung besonders effektiv.
Ekaterina spürt den Blick der Kommissarin auf sich, beinahe witternd. Sie hat aufgehört zu sprechen, ist in ihren Gedanken versunken, wie lange schon?
»Murmansk«, sagt sie schnell. »Ein dank des Golfstroms auch im Winter schiffbarer Freihafen. Hitler wollte ihn erobern, hat es aber nicht geschafft. Jeder Quadratzentimeter Boden dort ist mit Blut getränkt, sagen die Alten. Heute erinnern unzählige Kriegsdenkmäler daran.«
Judith Krieger bläst in ihren Tee, ohne die Aufmerksamkeit von Ekaterina zu wenden. Ihre Konzentration ist beinahe körperlich spürbar, und mit Erstaunen registriert Ekaterina, dass sie nun, da sie einmal angefangen hat, von ihrer Heimat zu sprechen, gar nicht mehr damit aufhören will, jedenfalls solange es nicht zu persönlich
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