Nacht ohne Schatten
Prostituierte? Ein Wirtschaftsflüchtling?«
Manni erwartet, dass die Krieger nun endgültig hochgeht, ihn anschreit oder zynisch wird, doch stattdessen stapft sie zur Tür. »Stockholm-Syndrom«, sagt sie leise, gerade als er davon ausgeht, dass sie ihn wortlos abserviert. »Ich glaube, dass es ein Maà an Gewalt gibt, das die Fähigkeit, frei zu entscheiden, aufs bloÃe Ãberlebenwollen reduziert.«
* * *
Sie teilen sich auf, als sie wieder im Präsidium sind. Manni übernimmt Jörg Boll, Judith den Obdachlosen Schmidt. Der knickt sofort ein, als sie ihm die Brieftasche zeigt. Gibt zu, dass er das Geld mit Jörg Boll geteilt hat, schwört jedoch, nichts von einem Frauenfoto zu wissen. Zeit vergeht, bis die Fingerabdruckanalyse der KTU dies bestätigt, dann auch Entwarnung gibt, was Jörg Boll betrifft. Keine der Spuren deutet darauf hin, dass Boll in irgendeiner Weise in die Morde verwickelt ist. Und auch das Alibi, das er Schmidt für die Brandnacht gegeben hat, scheint wasserdicht. Nachbarn haben den Boxkampf durch die dünnen Wände gehört, einer hat sich beschwert und dabei nicht nur Boll, sondern auch Schmidt in Bolls Wohnung gesehen.
Sie lassen die Männer laufen. Verbieten ihnen, die Stadt zu verlassen. Nehmen ihnen das Versprechen ab, für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen. Sie nicken, ja, ja, ja. Sie wollen raus, nur raus. Judith geht zurück in ihr Arbeitszimmer, raucht eine Zigarette. Als Stockholm-Syndrom bezeichnet man die vermeintliche Zuneigung einer Geisel zu ihrem Entführer, die durch vollkommene Abhängigkeit entsteht, die Angst vor dem Tod. Ist es das, was der jungen Russin passiert ist, die nun endlich einen Vornamen hat? Hat sie sich eingebildet, Wolfgang Berger zu lieben? Oder hat Manni recht und sie liebte den S-Bahn-Fahrer wirklich?
Früher, in der Zeit mit Cora, hat Judith gedacht, es sei einfach. Sie war überzeugt gewesen, dass sie nach und nach alle Frauen erreichen und für ihr Ideal von einem gleichberechtigten Leben begeistern würden. Dann hatte sie erkennen müssen, dass Solidarität eine Utopie ist und dass längst nicht alle Frauen die Kraft, den Mut oder auch nur die Lust hatten, ihren Traum zu teilen. Sie hatte gelernt, dass es Kollaborateurinnen gab, die ihnen immer wieder in den Rücken fielen, vorzugsweise dann, wenn Männer in der Nähe waren. Frauen, die behaupteten, Pornografie mache ihnen Spaà und Prostitution sei ein ganz normaler Beruf. Vollzeit-Mütter, die berufstätigen Müttern die Vernachlässigung ihrer Kinder vorwarfen und kinderlosen Frauen Egoismus. Und so weiter und so fort. Hennenkämpfe. Zickenalarm. Judith schlieÃt die Augen, sieht einen Moment lang ihr jüngeres Ich vor sich, ihren Enthusiasmus, so deutlich, dass es fast schmerzt. Kollaboration. Das Paktieren mit dem Feind, gegen das eigene Volk. Entscheidet man sich als freies Individuum für diesen Verrat, oder hofft man, die Stärke des Feindes färbe auf einen ab? Kann man überhaupt je frei entscheiden? Früher war Judith überzeugt davon, jetzt ist sie manchmal nicht mehr so sicher.
Judith wählt Coras Handynummer.
»Ja, ich recherchiere für dich«, sagt die, sobald Judith sich gemeldet hat. »Lass mir bitte noch ein wenig Zeit.«
»Glaubst du, es gibt Frauen, die wirklich gern und aus freien Stücken anschaffen gehen?«
»Ich weià es nicht«, sagt Cora nach langem Zögern. »Aber wenn wir das nicht akzeptieren, sprechen wir denen, die das von sich behaupten, die Fähigkeit ab, für sich selbst entscheiden zu können.«
»Wir wollten so vieles erreichen.«
»Auf eine Art war es leichter damals. Es gab gönnerhafte Typen, Verbote, Gesetze, die Frauen benachteiligten.«
»Klare Feindbilder.«
»Heute heiÃt es nur noch
anything goes,
jeder, wie er will. Solange es sich verkaufen lässt, ist alles okay.«
Judith drückt ihre Zigarette aus, als sie sich verabschiedet haben. Ekelt sich plötzlich vor dem Geschmack, den das Nikotin auf ihrer Zunge zurücklässt, spült mit lauwarmem Mineralwasser nach. Was ist mit Luigi Baldi, dem Pizzeriabesitzer, was ist seine Rolle in der Vorgeschichte des Brandanschlags? Die am Morgen eigens einberufene Soko Rimini hat bislang keinerlei Verbindung zwischen ihm und Berger herstellen können. Es gibt keine konkreten Hinweise auf Baldis Betätigung im Rotlichtmilieu.
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