Nacht ohne Schatten
vermisste die Geräusche der Nachbarn, ihre Gerüche und sogar ihre gelegentlichen Streitereien.
Geh, Katja, sagte Ekaterinas Mutter am Nachmittag, als das Licht schon wieder zu schwinden begann. Geh ein Weilchen drauÃen spielen, Papa ist müde. Der Wind war Eis und lieà das Springseil, das Ekaterina hinter sich herzog, im Nu so steif gefrieren, dass sie nichts mehr damit anfangen konnte. Ihr
kanat,
ihr neues Seil. Sie hatte sich so drüber gefreut. Aber allein machte das Seilspringen keinen SpaÃ, und bis ins Dorf zu den anderen Kindern war es zu weit. Der Schnee auf dem Boden sah grau aus, grau wie der Himmel. Man konnte nicht erkennen, wo die Insel aufhörte und das Meer begann. Raureif legte sich auf Ekaterinas Wimpern, Augenbrauen und auf die Haarsträhnen, die unter ihrer Pelzmütze hervorschauten. Sie blinzelte, damit die Tränenflüssigkeit in den Augenwinkeln nicht gefror, während sie zurück zum Pförtnerhaus stapfte. Sie wollte das Seil hineinbringen, sich zwei, drei Minuten am Ofen aufwärmen. Vielleicht konnte sie die Mutter überreden, sie doch drinnen spielen zu lassen, wenn sie ganz, ganz leise war.
Der Vater schlief nicht, das hörte Ekaterina, sobald sie das windschiefe Holzhaus erreichte. Er beschwerte sich über irgendetwas, er wurde immer lauter dabei, die Stimme zerdehnt von zu viel Wodka und zu viel Winterlangeweile, weil die Boote nutzlos im Hafen lagen. Wie ein leiser Begleitsingsangantwortete ihm die Mutter. Beschwichtigend, flatterig und viel zu hoch. Du hörst nichts, Katja, da ist nichts, du bildest dir das ein. Unschlüssig hielt Ekaterina ihr Seil in den Handschuhhänden. Sie wollte da reingehen und ihnen sagen, dass sie aufhören sollten, und gleichzeitig wollte sie weit, weit weg.
Kanat.
Man kann allein oder zu mehreren seilspringen. Auf einem Bein oder auf zweien. Man kann zählen und singen dabei. Der Wind trieb Schmerz in Ekaterinas Augen, sie zwang sich zu blinzeln, starrte die eiserne Türklinke an.
Die Stimme des Vaters wurde jetzt lauter, wütender. Etwas fiel um, rumpelte, etwas klatschte. Die Mutter schrie auf, blieb dann stumm. Schritte folgten, Stiefelschritte, direkt auf Ekaterina zu. Sie reagierte blind, wie ein in die Enge getriebener Fuchs. Sprang von der Treppe, duckte sich in den Schatten der eisverkrusteten Fassade. Der Vater stampfte an ihr vorbei und sah sie nicht. Er trug den Brennholzkorb in der Hand und die Axt.
»Mama, bitte, komm mit mir.«
Es war keine willentliche Entscheidung gewesen, die Ekaterina ins Haus getragen hatte, aber auf einmal stand sie dort in der Wohnstube, hielt ihrer Mutter das Springseil hin, wie ein Pfand.
»Geh, Kind, schnell, bevor er dich sieht.«
Jedes einzelne Wort schien der Mutter Mühe zu bereiten. Sie sprach, ohne die Hand vom Mund zu nehmen, und plötzlich sah Ekaterina das Blut. Blut, das unter der Hand hervorsickerte und ihr Kleid besudelte, immer mehr.
»Geh«, wiederholte die Mutter, aber es war schon zu spät, die Schritte des Vaters kamen zurück, und es war die Panik in den Augen der Mutter, die Ekaterina in die Schlafstube trieb. Ganz klein krümmte sie sich unter dem Elternbett zusammen, drückte das kalte
kanat
an ihr Gesicht.
»Lappenschlampe, dir werd ichâs zeigen! Immer willst du weg von mir.«
»Bitte, Alexej, denk doch an das Kind.«
Ekaterina hielt sich die Ohren zu. Es half nichts. Die Worte waren zu laut. Die Worte. Die Panik. Der Hass. Das Knarren der Dielen, das Krachen der Möbel. Faustschläge. Axtschläge. Schreie, unmenschlich hoch. Das Splittern von Knochen. Stillstand. Das Weinen eines Mannes. Trocken. Hart. Das Glucksen der Wodkaflasche und dann, nach einer Ewigkeit, ein einziger Schuss.
Die Nachbarn kamen erst am darauffolgenden Tag, Ekaterinas sechstem Geburtstag. Das Feuer im Holzofen war längst erloschen, die Haustür stand offen. Sie gingen hinein, fanden erst die Eltern und zwei Stunden später Ekaterina unter dem Bett. Sie hatte sich eingenässt, lag in einer Pfütze gefrorenen Urins. Sprachlos. Blicklos. Das Springseil noch immer in der Hand. Sie habe Glück gehabt, sagten sie. Ohne die Pelzmütze, die Jacke und die Fellstiefel wäre sie tot.
Sie trugen sie hinaus, versuchten zu verhindern, dass sie die Eltern im Wohnzimmer sah. Das, was von ihnen geblieben war: zwei fremde Körper, die Gesichter nur Blut. Aber Ekaterina hatte schon gesehen, was sie sehen musste.
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