Nacht über Algier
werfe einen Blick ins Zimmer, niemand. Als ich mich gerade zurückziehen will, ertönt ein kehliger Schrei hinter einer versteckten Tür, die ich langsam aufstoße. Als erstes sehe ich einen Rock und ein Spitzenhöschen am Boden, danach ein halbnacktes Mädchen, das bäuchlings auf einem Schreibtisch liegt, die Schenkel großzügig gespreizt, während Ghali Saad, seinen Phallus steif aufgerichtet wie ein Thermometer, offensichtlich gerade ihre Temperatur messen will.
Wie betäubt von dem Schauspiel, beeile ich mich, das Zimmer zu verlassen und auf dem Flur zu warten, bis man mich hereinruft.
Fünf Minuten später kommt das Mädchen heraus und verschwindet auf dem Gang. Ich halte es für klüger, mich weitere fünf Minuten zu gedulden, bevor ich mich bemerkbar mache. Ghali empfängt mich schließlich mit freundlicher Herablassung.
»Es tut mir leid für die Zentrale«, sagt er. »Diese Geschichte wird ihrem Ruf nachhaltig schaden. Köpfe werden rollen, das steht fest. Und das ist erst der Anfang ... Ich mache mir Sorgen um Lino. Er ist ein netter Junge, das hat er wirklich nicht verdient.«
»Es handelt sich um ein bedauerliches Mißverständnis.«
»Das ist aber nicht die vorherrschende Meinung.«
»Das ist mir egal.«
»Hör mal, Brahim, die Angelegenheit liegt in der Hand unserer besten Spürhunde.«
»Es ergibt keinen Sinn.«
Ghali bittet mich, ruhig zu bleiben, bevor er sich auf die Schreibtischkante setzt. Er zieht die Lippen auseinander, wiegt nachdenklich das Kinn hin und her und sagt dann: »Ich verheimliche dir nicht, daß man ihn von Anfang an im Verdacht hatte.«
»Ach ja?«
»Sämtliche Spuren führen zu ihm. Dein Lieutenant ist ein schlechter Verlierer. Er hat seine Pleite mit Nedjma nicht überwunden. Alle Zeugenaussagen stimmen überein, sie konzentrieren sich auf ihn und belasten ihn. Schon im >Sultanat bleu< hat er die Waffe gezogen und das Restaurantpersonal sowie die Gäste bedroht. Und nach diesem skandalösen Vorfall hat er sich vollaufen lassen und ist im Krankenhaus gelandet. Kaum wieder auf den Beinen, macht er die Spielhöllen unsicher. Und wenn er keine Schlägerei vom Zaun bricht, läßt er sich wie ein Penner aus der Gosse aufsammeln. In den verschiedenen Berichten, die bei uns eingegangen sind, wird er als depressiv und unberechenbar geschildert.«
»Das war nichts weiter als Wut, schlecht verdaute Enttäuschung. Ich kenne ihn, er ist ein Großmaul, das ist alles. Er muß eben immer seine Klappe aufreißen, er kann nicht anders. Aber deswegen ist er kein Mörder .«
»Meiner Meinung nach war er maßlos aufgebracht gegen Thobane. Das hat ständig an ihm gefressen, und seine Besäufnisse haben alles noch verschlimmert. Irgendwann würde er Mist bauen, das war abzusehen.«
»Schreib ihn nicht gleich ab, ja? Wenn man dich so hört, brauchte man noch nicht mal einen Prozeß, um ihn abzuservieren.«
Er steht auf und gibt mir so zu verstehen, daß er mir mehr Zeit gewidmet hat als nötig. Ich will nicht sofort die Segel streichen.
»Ich muß mit ihm sprechen. Wo ist er? Wo hat man ihn eingesperrt?«
»Ich fürchte, das ist nicht möglich, Brahim. Der Lieutenant wird von der Spitze der Hierarchie verhört.«
»Ich lasse nicht zu, daß sie ihn fertigmachen. Es ist ein Mißverständnis. So wie sich die ganze Angelegenheit darstellt, spricht alles gegen ihn, richtig, aber Haj Thobane hat auch andere Feinde.«
»Ganz deiner Meinung, außer daß keiner von denen eine Spur hinterlassen hat. Dein Lieutenant dagegen schon.«
Ich runzle die Stirn. »Das heißt?«
Ghali faßt mich an der Schulter und schiebt mich sanft zur Tür.
»Von den fünf am Tatort sichergestellten Patronenhülsen waren drei aus verschiedenen Gründen nicht verwertbar, aber zwei waren noch unbeschädigt. Auf ihnen wurden Fingerabdrücke von Lino gefunden.«
Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden habe ich das Gefühl, daß der Himmel - der ganze Himmel, mit seinen Gewittern, seinen Gebeten, seinen Kometen und seinen Raumsonden - über mir zusammenbricht.
Ich stelle meine Kiste an einer Ecke ab und gehe los, um auf der Place des Trois-Horloges ein Bad in der Menge zu nehmen. Bei diesem schönen Wetter sind die Cafes bevölkert. Ich habe mich oft gefragt, wie das Land aussähe, wenn eine Fatwa oder ein Präsidentendekret selbstherrlich anordnen würde, die Cafes versiegeln zu lassen. Früher hatte es hier und da ein Kino oder ein Theater gegeben, hatte sich eine Menschenmenge um einen
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