Nacht über Algier
anderen, begebe ich mich so schnell wie möglich nach draußen zu meinen Leuten.
Als ich spät in der Nacht nach Hause komme, erwartet mich Mina mit verquollenen Augen im Wohnzimmer.
Der Schlafmangel und die ständigen Hausfrauenpflichten reiben sie völlig auf. Aber sie ist erleichtert, mich wohlbehalten wiederzusehen.
»Stimmt es, daß man auf einen Minister geschossen hat?«
»Weißt du, wie spät es ist? Warum bist du nicht im Bett?«
»Sie haben im Radio von dem Attentat berichtet. Sogar der Sprecher hatte eine zittrige Stimme. Was ist das für eine Geschichte? Seit Khemisti [ Mohamed Khemisti, erster algerischer Außenminister, der eine tragende Rolle im Befreiungskampf spielte. 1963 wurde er auf offener Straße getötet, die Hintergründe dieses Mordes sind bis heute unklar] ist bei uns nie wieder ein Minister angegriffen worden.«
»Der hier ist viel mehr als ein Minister. So etwas wie eine Gottheit. Aber nicht er ist tot, sein Fahrer wurde abgeknallt.«
Mina schlägt sich fassungslos an die Brust. »Mein Gott! Wenn man bei dem ganzen Elend jetzt auch noch anfängt, nur so zum Spaß auf die Leute zu schießen ...«
»Das ist kein Weltuntergang, Mina. Geh jetzt ins Bett und laß mich in Ruhe. Mir zerspringt gleich der Kopf.«
Mina begreift, daß ich nicht in Stimmung bin. Taumelnd erhebt sie sich. »Ich mache dein Essen warm.«
»Nicht nötig. Ich möchte lediglich ein Bad nehmen.«
»Hier im Viertel gab's für heute nacht keine Wasserzuteilung.«
»Schon wieder!«
Ich hänge meine Jacke an den Garderobenständer und bemühe mich, ruhig Blut zu bewahren. Als ich endlich im Bett bin, versuche ich mich zu entspannen und zu rekapitulieren, was heute nacht geschehen ist. Nachdem ich ein paar Teile zusammengesetzt habe, fängt das Puzzle an, mir schwer im Magen zu liegen. Zu erschöpft von den Überstunden, lege ich meine Hände unter den Nacken und schließe die Augen. Neben mir wälzt sich Mina unruhig hin und her und entlockt unserem alten Bettgestell ein unaufhörliches, gedämpftes Knarren. Ich weiß, daß sie nicht vor mir einschlafen wird.
Um sechs Uhr morgens bin ich auf den Beinen, beileibe nicht ausgeruht, aber entschlossen, den Tag so gut wie möglich zu nutzen. Nach einem reichlich zuckerhaltigen Frühstück begebe ich mich als erstes in den Chemin des Lilas. Ich will den Tatort unbedingt noch einmal mit klarem Kopf in Augenschein nehmen, vielleicht gibt ja das Tageslicht etwas preis, was das Dunkel der Nacht mir vorenthalten hat. Am Vorabend hatte ich zwei Nachbarn bemerkt, einen jungen Mann und eine alte Dame, die sich ständig eindringliche Blicke zuwarfen, wenn ein Polizist in ihrer Nähe war. Sie müssen irgend etwas bemerkt haben.
Der Tag kündigt sich strahlend an. Kein einziges Wölkchen schiebt sich vor den klaren Himmel. Die Sonne, noch hinter dem Hügel, verspricht, sich selbst zu übertreffen. Es ist Freitag, die Straßen sind leergefegt an diesem muslimischen Wochenende [ 1981 wurde das europäische Wochenende in Algerien abgeschafft und das muslimische eingeführt, d. h. Donnerstag und Freitag sind arbeitsfrei, Samstag und Sonntag hingegen Werktage]. Mein Zastava lärmt durch die morgendliche Stille, daß es mir fast peinlich ist. Ich fahre durch etliche Stadtteile, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Sogar die Ampeln blinken gelb. Ich erreiche Hydra in weniger als zwanzig Minuten. Wenn ein frommer Muslim wie ich durch dieses Viertel streift, kann er sich eine Vorstellung vom Garten Eden machen, der ihn nach dem Tod erwartet. Ich ertappe mich bei dem Versprechen, anständig zu bleiben, täglich meine fünf Gebete zu sprechen, meinen Nächsten niemals zu verleumden und so weiter.
Im Chemin des Lilas muß ich meine Träumereien auf der Stelle an den Nagel hängen. Ich werde den Tatort nicht ungestört inspizieren können, vor der Hausnummer sieben ist eine riesige Menschentraube versammelt und zertrampelt das Gelände, so daß die Aussicht, auf eine intakte Spur zu stoßen, immer geringer wird. Die beiden Lieferwagen von gestern abend sind noch immer da. Andere Autos sind dazugekommen, manche, so riesig wie Ozeandampfer, versperren den Bürgersteig. Mit etwas Glück finde ich schließlich trotzdem ein Plätzchen für meine Karre. Kommissar Dine vom OBS, der obersten Polizeibehörde, eine Art algerisches FBI, fängt mich ab. Er schlürft in seinem Auto gerade genüßlich einen Becher Kaffee, als er mich entdeckt. Er öffnet die Wagentür und winkt mich
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