Nacht über Algier
bringen.«
Bliss zieht die Augenbrauen hoch.
Der Direx angelt sich eine neue Zigarette, dreht sie ein paarmal mit abwesender Miene in den Fingern, bevor er sie sich zwischen die Lippen steckt. Ghaouti steht auf und gibt ihm Feuer. Der Direx nimmt einen endlos langen Zug und stößt den Rauch durch die Nase wieder aus. Sein Blick fällt über mich her.
»Du vergeudest deine Zeit, Brahim. Unser Lieutenant sitzt so tief in der Scheiße, daß wir alle über kurz oder lang auch mit hineingezogen werden. Wir haben jetzt die Untersuchungsergebnisse schwarz auf weiß vorliegen: Die Fingerabdrücke auf den Patronenhülsen sind eindeutig von ihm.«
»Was sagt die Ballistik?«
Bliss erhebt sich. Die Hände in den Taschen, geht er um mich herum und stellt sich neben den Direktor.
»Die Ballistik muß erst die Tatwaffe sicherstellen, bevor sie eine Aussage treffen kann. Der Lieutenant behauptet nämlich, daß ihm seine Knarre abhanden gekommen ist. Er erinnert sich nicht, wo er sie verloren oder liegengelassen hat. Wir haben seine Wohnung durchsucht, ohne Ergebnis.« Er nutzt meinen Schockzustand aus, um mir den Todesstoß zu versetzen. »Soviel Übereinstimmung ist kein Zufall. Lino läßt uns keinerlei Handlungsspielraum, ihn aus dem Loch, das er sich selbst geschaufelt hat, wieder rauszuholen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ein Geständnis abzulegen. Er hat noch nicht mal ein Alibi. Am Abend des Attentats war er sturzbetrunken, er behauptet, er habe sich irgendwo in der Stadt vollaufen lassen. Aber wo genau? Er erinnert sich nicht mehr. Er sagt, er habe seine Knarre verloren. Wo? Wann? Er gibt zu, daß er nicht den leisesten Schimmer hat. Ich bin persönlich nach Bab El-Oued gefahren in der Hoffnung, wenigstens einen Schlaflosen zu finden, der ihn in der besagten Nacht gesehen hat. Aber nicht mal eine herumstreunende Katze hat sich für ihn verbürgt. Linos Akte ist dick genug, um ihn an die Wand zu stellen.«
Zusammen mit Serdj fahre ich nach Soustara zu Sid [ (arab.) Kurzform zu Saiyid: mein Herr] Ali, einem ehemaligen Polizisten, der inzwischen eine Kneipe betreibt. Hin und wieder kreuzen Kollegen bei ihm auf, um in seiner Hinterstube, sicher vor Spitzeln, in aller Ruhe einen zu heben. Da Lino diesen Ort kennt, dachte ich mir, daß man hier anfangen könnte, ein Alibi für ihn zu finden.
Sid Ali baut sich zur Begrüßung breitbeinig auf seinen Pottwalflossen vor uns auf.
»Was passiert, wenn ein Bullenschwein einer Bullensau begegnet?« grunzt er.
»Weiß ich nicht.«
»Es hat Tränen im Mund.«
Als er merkt, daß mich sein Rätsel nicht inspiriert, zieht er fassungslos seine Augenbrauen zusammen.
»Stimmt irgendwas nicht mit dir, Brahim?«
»Ich habe ziemlichen Ärger am Hals«, gebe ich zu. »Hast du Lino zufällig in den letzten Tagen gesehen?«
Sid Ali hält Daumen und Zeigefinger an die Schläfen, um sich zu erinnern. Unter der Höckernase bewegt sich sein struppiger Bart hin und her. Ich hänge an seinen Lippen wie ein Schiffbrüchiger an einer Planke und bete, daß sich sein Gesicht aufhellen möge, aber zu meinem großen Kummer schüttelt Sid Ali verneinend den Kopf und stößt mich so noch tiefer in Verzweiflung.
»Es ist sehr wichtig«, versuche ich ihn anzustacheln.
»Ich habe ihn schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Was ist los? Hat er sich aus dem Verkehr gezogen?«
»Er steckt in der Scheiße, und ich muß ganz genau wissen, wo er sich in den letzten Tagen rumgetrieben hat, mit wem er zusammen war, und vor allem, was er in der Nacht von Donnerstag auf Freitag angestellt hat. Hast du nicht irgendeine Idee? Er kam doch manchmal hier vorbei, um einen Schluck zu trinken.«
»Nur wenn er abgebrannt war. Er steht bei mir mächtig in der Kreide. Seitdem ich ihn daran erinnert habe, daß er mir 'ne Menge Geld schuldet, verirrt er sich nicht mehr hierher. Aber ich kenne eine Spielhölle, wo er hin und wieder auftaucht. Der Wein ist da nicht so gepanscht, und es werden Mädchen reingelassen, was bei mir nicht der Fall ist.«
Serdj holt sein Notizbuch hervor und beginnt zu schreiben.
»Ist das weit?«
»Nur einen Steinwurf, gegenüber der alten Limonadenfabrik. Beim Kreisel haltet ihr euch links, folgt der alten Zufahrtsstraße, und wenn ihr an der Fabrik seid, biegt ihr rechts ein. Die Straße heißt Rue Freres-Mourad.«
Die Rue Freres-Mourad, eine Sackgasse, gleicht ihrer durch und durch schmutzigen Geschichte. Eine breite Fahrbahn mit jahrhundertealtem Kopfsteinpflaster, hohen
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