Nacht über Algier
Alptraum werden. In dieser Zeit hüllte sich der Namenlose in Schweigen. Er sagte nie etwas. Weder Scheiße noch danke. Er war total übergeschnappt, daran gab's nicht den geringsten Zweifel. Er heckte irgendwelche Pläne aus und hütete sie eifersüchtig. In der Dusche hab ich ihm einmal meine Seife rübergereicht. Wider Erwarten hat er sie angenommen. Er hat nicht danke gesagt, aber mir fiel trotzdem ein Riesenstein vom Herzen. Dann hat er mir eines Nachts ohne besonderen Anlaß, einfach so, gesagt, wie er heißt, wo er herkommt, und irgendwas von einer Metzelei erzählt, bei der er dabei war. Ich konnte es überhaupt nicht fassen. Am nächsten Tag, als wir im Speisesaal gerade beim Essen waren, stand er plötzlich hinter mir und hat mir ein zehn Zentimeter langes Stück Glas in die Seite gerammt. Ich habe nie begriffen, warum. Ich wurde bewußtlos in die Krankenstation eingeliefert. Als ich zurückkam, war der Namenlose nicht mehr da. Man hatte ihn in eine Einzelzelle gesteckt, bevor er schließlich in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde.«
Soria schlägt ein Notizbuch auf und liest vor: »Er hieß Belkacem Talbi, nicht wahr?«
»Ja, ja, stimmt. Und daß er in Sidi Ba geboren ist und bei einem Massaker seine gesamte Familie verloren hat, auch.«
»Wie kommt es, daß du dich nach so vielen Jahren noch an seinen Namen erinnerst?« will ich wissen.
»Das einzige Mal, daß ich dem Tod ins Auge geschaut habe, war, als er auf mich eingestochen hat. Wenn es eine Visage gibt, die ich nicht so bald vergessen werde, dann ist das seine.«
»War er es, der dir auferlegt hat, über sein Geheimnis Stillschweigen zu bewahren?«
»Ich habe von niemandem Befehle zu empfangen. Wenn dieses Arschloch sich bei meiner Rückkehr noch in meinem Revier rumgetrieben hätte, dann hätte ich ihm auf der Stelle den Hals umgedreht. Ich habe ihm niemals verziehen ... Wenn ich bis jetzt nichts gesagt habe, dann deshalb, weil ich nicht wußte, was für einen Sinn das haben sollte. Erst als Madame in den Erinnerungen gewühlt hat, wurde mir klar, daß es von Interesse sein könnte.«
»Und wie war das mit dem Massaker?«
»Das passierte nachts. Ein paar Typen mit Waffen sind bei ihm aufgekreuzt. Sie haben gesagt, daß sie ihn und seine Familie in Sicherheit bringen wollten. Sie haben sie alle in den Wald gebracht und einem nach dem anderen die Kehle durchgeschnitten. Der Namenlose hat das allgemeine Durcheinander genutzt und ist abgehauen. Zwei Männer sind ihm hinterhergelaufen, haben ihn aber nicht mehr erwischt.«
»Hat er etwas zu den Gründen für dieses Blutbad gesagt?«
»Nein, er sprach wie im Wahn. Ich hatte nicht den Eindruck, daß er sich speziell an mich richtete. Er redete einfach so vor sich hin.«
»Hat er keine Namen genannt oder eine Andeutung gemacht, auf irgendein Ereignis, wodurch man das Massaker einordnen könnte?«
Der Ladenbesitzer denkt nach.
»Wer waren diese bewaffneten Leute?« hakt Soria nach.
»Ich hab ihn nicht danach gefragt. Ich glaube, das Ganze hat sich im Befreiungskrieg abgespielt. Nur in dieser Zeit waren die Leute bis an die Zähne bewaffnet.«
»Bekam er Besuch?«
»Er? Nicht ein einziges Mal. Das war ein Außerirdischer.«
Soria schaut mich an, um zu sehen, ob ich noch weitere Fragen habe.
Mir fallen keine mehr ein, aber der Typ hat mich wieder in Schwung gebracht, ich verspreche ihm, wiederzukommen.
»Zum selben Tarif, Bulle«, sagt er. »Wenn ihr Stammkunden werden wollt, könnte ich euch vielleicht einen günstigen Preis machen.«
Der zweite Zeuge heißt Habib Gad und wohnt in Mouzai'a, einem winzigen Kolonialstädtchen östlich von Blida, wo er ein Baugeschäft betreibt. Er springt nicht gerade an die Decke, als wir auftauchen und ihn bei seinen dunklen Geschäften aufstören.
Der Mann hat sich für sein Alter ziemlich gut gehalten, er ist lang und dünn wie ein Mast, mit einem messerscharf geschnittenen Gesicht und Sperberaugen. Er fordert uns auf, ihm in eine Sperrholzbude zu folgen, die er als sein Büro ausgibt. Mit einer Kopfbewegung schickt er die Sekretärin hinaus, holt tief Luft, um nicht die Beherrschung zu verlieren, schließt die Tür und lehnt sich dagegen.
»Sie haben sie wohl nicht mehr alle, Madame! Ich tue Ihnen einmal einen Gefallen, und dann kommen Sie am nächsten Tag gleich wieder angetanzt, um mir auf den Geist zu gehen.«
Der Angriff trifft Soria völlig unvorbereitet und bringt sie aus dem Gleichgewicht.
»Wenn das so weitergeht, Madame, habe ich bald
Weitere Kostenlose Bücher