Nacht über Algier
Allouche hat mir weitere Tonbänder vorgespielt, was mir allerdings kaum weitergeholfen hat, die Persönlichkeit des Serienmörders zu erfassen. Seine Identität verflüchtigt sich in endlosen Delirien. Und seine Akte ist so dürftig wie der Aufsatz eines Faulpelzes. Ohne Herkunft und ohne Vergangenheit, ein Rätsel.
Ich bitte Serdj, mich wieder im Büro abzusetzen.
Baya legt sich hinter einem Stoß unerledigter Akten gerade frischen Puder auf, als ich hereinkomme.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«
Ohne den Kopf zu heben, teilt sie mir mit, daß Professor Allouche mich sprechen wollte.
»Verbinde mich mit ihm, dann kannst du verschwinden. Ich brauch dich heute nachmittag nicht mehr.«
Der Professor ist in heller Aufregung.
»Achtung«, warnt er mich. »Es ist kein Festschmaus, aber immerhin so viel, um den ärgsten Hunger zu stillen.«
»Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Was steht denn auf dem Speiseplan?«
»Nicht am Telefon, Brahim. Kannst du gegen achtzehn Uhr bei mir sein? Ich habe da jemanden, der dich interessieren könnte.«
»Warum nicht jetzt gleich?«
»Der Betreffende ist im Moment nicht frei.«
»Na schön. Könnten wir uns vielleicht an einem weniger trübseligen Ort treffen? In deiner Irrenanstalt kann ich mich nicht konzentrieren.«
»Du kannst mir glauben, daß es hier besser ist als woanders. Es ist sehr, sehr wichtig.«
Ich treffe genau mit Einbruch der Dunkelheit in der Anstalt ein. Dicke, düstere Wolken kriegen sich über den Baracken in die Wolle. Die Wege sind verlassen, und der Parkplatz ist leer. Hier und da verweist ein tristes Licht auf bewohnte Zimmer. Ich höre einen langgezogenen Schrei, der von unflätigen Befehlen rasch unterdrückt wird; gleich darauf breitet sich wieder Stille aus. Professor Allouche ist nicht allein in seinem Dienstzimmer. Eine schöne, elegante Brünette mit riesengroßen Augen, vollem Mund und einem herrlichen Leberfleck auf der Wange rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, einen Ordner an die Brust gedrückt. Sie muß Ende Dreißig sein, ein Alter, das ihr, gepaart mit dem gepflegten Äußeren, eine verführerische Reife verleiht.
»Also«, sagt der Professor, »ich stelle dir Soria Karadach vor. Sie lehrt Geschichte an der Universität von Ben Aknoun und arbeitet für verschiedene Fachzeitschriften im In- und Ausland.«
Ihr Händedruck ist kräftig, was im Gegensatz zu ihrem sanften Lächeln steht.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Kommissar Llob. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
Der Professor schiebt einen Stuhl in meine Richtung.
»Ich kenne Soria seit ein paar Wochen«, erzählt er. »Als du das erste Mal wegen der Präsidentenamnestie bei mir warst, habe ich dir von einer Journalistin erzählt, die sich für den Namenlosen interessiert. Das ist sie. Sie hatte sich sofort gemeldet, als ich die staatlichen Autoritäten und die Presse auf die Gefahr hinwies, die mein Patient darstellt. Doch dann war sie auf einmal wieder verschwunden, und ich dachte schon, sie hätte einen Rückzieher gemacht. Ich habe mich getäuscht. Madame Karadach ist hartnäckig. Sie hat ihre Ermittlungen weiterbetrieben. Ich glaube, sie hält einige Enthüllungen für uns bereit.«
»Keine Enthüllungen«, korrigiert die Dame, »aber ein paar meiner Meinung nach recht nützliche Details. Ich arbeite im Rahmen einer Studie seit mehreren Jahren über charismatische Persönlichkeiten unserer Revolution und ihre Heldentaten. Dabei bin ich zufällig auf den Fall des Namenlosen gestoßen. Ich untersuchte gerade die Zeit nach 1962, als mich die Geschichte eines Serienkillers ein bißchen durcheinanderbrachte. Die damalige Presse hatte ihm den pompösen Spitznamen Dermato gegeben und ihn schon vor Eröffnung des Prozesses verurteilt. Als Professor Allouche an unsere Redaktion schrieb, um gegen die Freilassung eines potentiell gefährlichen Gefangenen zu protestieren, habe ich sofort Kontakt mit ihm aufgenommen. Ich glaubte, daß das eine gute Gelegenheit sei, die wenigen Angaben, die ich zusammengetragen hatte, zu erweitern, doch das war nicht der Fall. Außer dem psychoanalytischen Aspekt gab es nichts wirklich Greifbares. Dann aber geschah das Attentat auf Monsieur Thobane. Das hat alles verändert.«
»Was hat es verändert, Madame?« frage ich sie und zünde mir eine Zigarette an.
»Ich glaube, daß es da einen Zusammenhang mit dem Namenlosen gibt. Zwar nur einen winzigen, aber immerhin einen ganz reellen.«
»Wissen Sie, daß mein engster Mitarbeiter in
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