Nacht über den Wassern
herrliches Gefühl.
Inzwischen war es sechzehn Uhr zwanzig, Zeit, sich an Bord zu begeben. Sie verließ das Zimmer und kam durch ein Büro, in dem Mervyn Lovesey telefonierte. Er hob die Hand, um sie aufzuhalten.
Durch das Fenster konnte sie im Hafen die Passagiere in das Zubringerboot steigen sehen, trotzdem blieb sie stehen. Er sagte gerade in die Sprechmuschel: »Darum kann ich mich jetzt wirklich nicht selbst kümmern. Geben Sie den Kerlen, was sie fordern, und sehen Sie zu, daß die Arbeit gemacht wird!«
Sie war überrascht. Sie erinnerte sich, daß es in seiner Fabrik irgendwelche Schwierigkeiten mit einem dringenden Auftrag gegeben hatte. Jetzt hörte es sich an, als würde er nachgeben, was uncharakteristisch für ihn war.
Sein Gesprächspartner am anderen Ende war offenbar ebenso erstaunt, denn nach einem Moment sagte Mervyn: »Ja, verdammt, Sie haben richtig gehört! Ich bin jetzt zu beschäftigt, mich mit Handwerkern herumzustreiten! Auf Wiedersehen!« Er hängte auf. »Ich habe Sie gesucht«, wandte er sich an Nancy.
»Ist es Ihnen gelungen?« fragte Nancy. »Konnten Sie Ihre Frau überreden, daß sie zu Ihnen zurückkommt?«
»Nein. Aber ich habe es wohl nicht richtig angestellt.«
»Oh, das tut mir leid. Ist sie jetzt da draußen?«
Er schaute durchs Fenster. »Sie ist die Frau im roten Mantel.« Nancy sah eine blonde Frau Anfang Dreißig. »Mervyn, sie ist bildschön!« entfuhr es ihr. Sie war überrascht. Irgendwie hatte sie sich Mervyns Frau als einen herberen, weniger ansprechenden Typ vorgestellt, eher eine Bette Davis als eine Lana Turner. »Ich verstehe, weshalb Sie sie nicht verlieren wollen.« Die Frau hatte sich bei einem Mann in blauem Blazer eingehängt. Er war sicher ihr Liebhaber. Er sah bei weitem nicht so gut aus wie Mervyn; er war nicht sehr groß, und sein Haar begann sich zu lichten. Aber er wirkte freundlich und gelassen. Nancy sah sofort, daß die Frau sich in ihn verliebt hatte, weil er offenbar das genaue Gegenteil von Mervyn war. Sie empfand Mitgefühl für Mervyn. »Es tut mir wirklich leid«, sagte sie.
»Ich habe noch nicht aufgegeben«, entgegnete er. »Ich werde nach New York mitfliegen.«
Nancy lächelte. Das war schon typischer für ihn. »Warum nicht? Sie sieht wie eine Frau aus, die es wert ist, daß ein Mann ihr über den ganzen Atlantik folgt.«
»Es hängt jedoch von Ihnen ab«, sagte er. »Das Flugzeug ist voll.« »Stimmt. Wie können Sie dann mitkommen? Und wieso hängt es von mir ab?«
»Ihnen gehört der einzige noch freie Platz. Sie haben für die Honeymoon Suite bezahlt. Darin ist Platz für zwei. Ich bitte Sie, mir den unbesetzten Platz zu verkaufen.«
Sie lachte. »Mervyn, ich kann eine Honeymoon Suite nicht mit einem fremden Mann teilen. Ich bin eine ehrbare Witwe, keine Revuetänzerin!«
»Sie schulden mir einen Gefallen«, sagte er eindringlich.
»Ich schulde Ihnen einen Gefallen, aber nicht meinen guten Ruf!« Sein gutaussehendes Gesicht nahm einen hartnäckigen Zug an. »Sie haben ja auch nicht an Ihren guten Ruf gedacht, als Sie mit mir über die Irische See fliegen wollten.«
»Das war ja auch nicht über Nacht!« Sie wünschte, sie könnte ihm helfen; sie fand seine Entschlossenheit, seine schöne Frau zurückzuholen, rührend. »Tut mir leid, ehrlich«, versicherte sie ihm. »Aber ich kann mir in meinem Alter keinen Skandal leisten.«
»Hören Sie. Ich habe mich nach dieser Honeymoon Suite erkundigt. Sie ist nicht viel anders als die anderen Abteile. Sie hat zwei getrennte Liegesitze. Wenn wir nachts die Tür offenlassen, sind wir in keiner anderen Lage als zwei Personen, die sich nicht kennen und zufällig zwei nebeneinanderliegende Schlafplätze zugeteilt bekamen.«
»Aber überlegen Sie doch, was die Leute sagen würden!«
»Wegen wem machen Sie sich eigentlich solche Gedanken? Sie haben keinen Ehemann, der sich darüber aufregen könnte, und Ihre Eltern leben nicht mehr. Wer schert sich darum, was Sie tun?«
Er konnte von schonungsloser Offenheit sein, wenn er etwas wollte, fand sie. »Ich habe zwei Söhne Anfang Zwanzig!« protestierte sie.
»Sie werden es urkomisch finden, da möchte ich wetten.«
Da hat er wahrscheinlich recht, dachte sie trübsinnig. »Ich mache mir auch Gedanken wegen der ganzen Bostoner Gesellschaft. So etwas würde sich bestimmt herumsprechen.«
»Hören Sie, Sie waren verzweifelt, als Sie auf dem Flugplatz zu mir gekommen sind. Sie waren in Schwierigkeiten, und ich habe Ihnen geholfen. Jetzt bin
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