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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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dir ihre Gunst bewahren mußt.
    Er fragte sie, ob sie schon einmal geflogen sei.
    »Nur nach Paris, mit Mutter«, antwortete sie.
    Nur nach Paris, mit Mutter, dachte er verwundert. Meine eigene Mutter wird Paris nie zu Gesicht bekommen, geschweige denn in einem Flugzeug fliegen. »Und wie war das?« wollte er wissen. »Wie fühlt man sich, wenn man so privilegiert ist?«
    »Ich habe diese Parisreisen gehaßt«, sagte sie. »Ständig mußte ich mit langweiligen Engländern Tee trinken. Dabei wäre ich viel lieber in verräucherte Restaurants gegangen, wo Negerbands spielten.«
    »Meine Ma hat mich immer mit nach Margate genommen«, meinte Harry. »Da hab‘ ich dann im Meer herumgeplanscht, und es gab Eis, Fisch und Fritten.«
    Noch während er sprach, fiel ihm siedendheiß ein, daß er eigentlich hätte lügen sollen, und ihm wurde ganz mulmig zumute. In Gesprächen mit Mädchen aus der Oberschicht sah er sich des öfteren gezwungen, über seine Kindheit zu reden. Er murmelte dann etwas über ein Internat und einen abgelegenen Landsitz, und das wäre wohl auch jetzt ratsam gewesen. Aber Margaret kannte sein Geheimnis, und das Brummen der Flugzeugmotoren übertönte seine Worte, so daß es keine ungebetenen Zuhörer gab. Und trotzdem: Als er sich dabei ertappte, wie er die Katze aus dem Sack ließ, kam es ihm im ersten Moment vor, als wäre er aus einem Flugzeug gesprungen und wartete nun darauf, daß sein Fallschirm sich öffnete.
    »Wir sind nie an die See gefahren«, sagte Margaret sehnsüchtig. »Nur die einfachen Leute planschten im Meer herum. Meine Schwester und ich haben die armen Kinder immer beneidet. Die durften tun, was sie wollten.«
    Harry war belustigt über diesen neuerlichen Beweis dafür, daß er ein Glückspilz war: Die Kinder der Reichen, die in schwarzen Limousinen spazierengefahren wurden, Mäntel mit Samtkragen trugen und jeden Tag Fleisch zu essen bekamen, hatten ihn um seine barfüßige Freiheit und seinen Fisch mit Fritten sogar beneidet!
    »Ich kann mich noch gut an die Gerüche erinnern«, fuhr sie fort. »Da war der Duft aus dem Imbißstand zur Mittagszeit; da war der Geruch der geölten Maschinen, wenn man an einem Rummelplatz vorüberging; da war der anheimelnde Geruch nach Bier und Tabakrauch, der einem an Winterabenden aus den Pubs entgegenschlug, wenn jemand die Tür aufmachte. Die Menschen schienen sich an solchen Orten immer köstlich zu amüsieren. Und ich bin noch nie in einem Pub gewesen.«
    »Da haben Sie auch nicht viel versäumt«, sagte Harry, der nicht viel für Pubs übrig hatte. »Das Essen im Ritz ist besser.«
    »Sie bevorzugen meine und ich Ihre Lebensart«, stellte sie fest.
    »Aber ich habe beide ausprobiert«, betonte Harry. »Ich weiß, welche die bessere ist.«
    Sie sah einen Augenblick lang nachdenklich vor sich hin und fragte dann: »Wie stellen Sie sich Ihr weiteres Leben vor?«
    Was für eine Frage! »Ich will es genießen«, gab Harry zurück.
    »Nein, im Ernst.«
    »Was meinen Sie damit, im Ernst?«
    »Alle wollen ihr Leben genießen. Aber was wollen Sie tun?«
    »Was ich jetzt auch tue.« Aus einer Augenblickslaune heraus
    beschloß Harry, ihr etwas zu erzählen, was er bisher stets für sich behalten hatte. »Haben Sie je den Amateur-Einbrecher von Hornung gelesen?« Sie schüttelte den Kopf. »In dem Buch geht es um einen Gentleman-Einbrecher namens Raffles, der türkische Zigaretten raucht, allerfeinste Kleidung trägt, in die besten Häuser eingeladen wird und den Reichen ihren Schmuck stiehlt. So einer möchte ich sein.«
    »Also, das ist doch einfach dämlich!« gab sie schroff zurück.
    Er war pikiert. Wenn sie etwas für Unsinn hielt, nahm sie kein Blatt vor den Mund. Aber das, was er ihr gesagt hatte, war kein Unsinn – es war sein Traum. Er hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht – und so fühlte er sich jetzt auch veranlaßt, das Mädchen von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen. »Das ist überhaupt nicht dämlich«, widersprach er.
    »Aber Sie können doch nicht Ihr Leben lang Dieb bleiben«, sagte sie. »Wenn das so weitergeht, werden Sie im Gefängnis alt. Selbst Robin Hood hat geheiratet und sich zu guter Letzt häuslich niedergelassen. Also – was wollen Sie wirklich?«
    Harry pflegte derlei Fragen gewöhnlich mit einer Einkaufsliste zu beantworten: Wohnung, Auto, Mädchen, Partys, Anzüge aus der Savile Row und exquisiter Schmuck. Doch er wußte, daß das bei ihr nicht verfing, er würde nur Hohn und Spott ernten. Ihre

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