Nacht über den Wassern
ich verzweifelt – das verstehen Sie doch, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich bin in Schwierigkeiten und flehe Sie an. Das ist die letzte Chance, meine Ehe zu retten. Es liegt nur an Ihnen! Ich habe Sie gerettet, jetzt können Sie mich retten! Es kostet Sie, wenn überhaupt, nur einen Hauch von Skandal. Das hat noch niemanden umgebracht. Bitte, Nancy!«
Sie dachte über diesen Hauch von Skandal nach. Spielte es wirklich eine Rolle, wenn eine Witwe an ihrem vierzigsten Geburtstag eine Spur unbesonnen war? Es würde sie nicht umbringen, wie er gesagt hatte, und wahrscheinlich nicht einmal ihren Ruf ruinieren. Die Matronen von Beacon Hill würden sie für leichtsinnig halten, aber Damen ihres eigenen Alters würden wahrscheinlich sogar ihren Mut bewundern. Es ist ja nicht, als nähme man von mir an, ich sei noch Jungfrau, dachte sie.
Sie blickte in sein verletztes, hartnäckiges Gesicht, und ihr Herz fühlte mit ihm. Zum Teufel mit der Bostoner Gesellschaft, sagte sie sich. Das ist ein Mann, der leidet. Er hat mir geholfen, als ich Hilfe brauchte. Ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier. Er hat recht. Ich schulde es ihm.
»Helfen Sie mir, Nancy?« flehte er. »Bitte!«
Nancy holte tief Atem. »Verdammt, ja«, antwortete sie.
Harrys letzter Eindruck von Europa war ein weißer Leuchtturm, der stolz über dem Nordufer der Shannonmündung aufragte und zu dessen Füßen der Atlantik wütend gegen die Klippen brandete. Minuten später war weit und breit kein Land mehr zu sehen: nichts als endloses Meer, so weit der Blick reichte.
Wenn wir drüben sind, in Amerika, dachte Harry, bin ich ein reicher Mann.
Das Gefühl, dem Delhi-Ensemble so nahe zu sein, war verführerisch, ja beinahe sexuell erregend. Irgendwo an Bord dieses Flugzeugs, nur wenige Meter von seinem Sitzplatz entfernt, befand sich ein unermeßlicher Juwelenschatz. In seinen Fingern kribbelte es, so drängte es ihn danach, ihn zu berühren.
Eine Million Dollar in Schmuck sind mindestens hunderttausend bar auf die Hand… Ich könnte mir eine hübsche Wohnung und ein Auto kaufen, dachte er, vielleicht sogar ein Landhaus mit Tennisplatz. Oder sollte ich es besser anlegen und von den Zinsen leben? Dann würde ich zu den feinen Leuten mit Privatvermögen gehören!
Zunächst aber galt es erst einmal, an das Zeug heranzukommen.
Da Lady Oxenford ihren Schmuck nicht angelegt hatte, konnte er sich nur an zwei Stellen befinden: im Handgepäck hier im Abteil oder im Gepäckraum, wo die aufgegebenen Koffer untergebracht waren. Wär‘s mein Schmuck, dann behielte ich ihn in Reichweite, dachte Harry: Ich hätte ihn im Handgepäck. Ich ließe ihn keine Minute aus den Augen. Schwer zu sagen, wie die Lady darüber denkt.
Zuerst wollte er ihr Handgepäck unter die Lupe nehmen. Unter ihrem Sitz lugte ein teurer burgunderroter Lederkoffer mit Messingbeschlägen hervor. Fragt sich nur, wie ich daran komme, dachte er, vielleicht ergibt sich ja im Laufe der Nacht, wenn alle schlafen, eine Möglichkeit.
Ihm würde schon etwas einfallen. Riskant war die Sache gewiß: Stehlen war nun mal ein gefährliches Spiel. Bislang jedoch war es ihm auf die eine oder andere Weise noch immer gelungen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und wenn es noch so brenzlig aussah. Hier sitze ich, dachte er, und gestern erst hat man mich auf frischer Tat ertappt, mit gestohlenen Manschettenknöpfen in der Hosentasche. Die Nacht über saß ich im Kittchen, und nun sitz‘ ich hier an Bord des Pan-American-Clippers, auf dem Weg nach New York. Glück gehabt?
Mehr als das!
Ein Witz fiel ihm ein, den er einmal gehört hatte: Ein Mann springt im zehnten Stock aus dem Fenster. Wie er am fünften Stock vorbeisegelt, hört man ihn sagen: »So weit, so gut.« Da war er, Harry, doch aus anderem Holz geschnitzt!
Nicky, der Steward, brachte die Speisekarte und bot ihm einen Cocktail an. Eigentlich brauchte er keinen Drink. Trotzdem bestellte er ein Glas Champagner, einfach, weil es dazuzugehören schien. Das ist das wahre Leben, mein Junge, sagte er sich. Das Hochgefühl über die Reise im luxuriösesten Flugzeug der Welt wetteiferte mit der Angst vor der Ozeanüberquerung. Doch der Champagner tat seine Wirkung, und das Hochgefühl gewann die Oberhand.
Zu Harrys Überraschung war die Speisekarte auf englisch geschrieben. Wußten die Amerikaner nicht, daß feine Menüs französische Namen haben mußten? Aber vielleicht besaßen sie einfach zu viel Vernunft, um ihre Speisekarten in einer Fremdsprache zu drucken.
Ich
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