Nacht über den Wassern
glaub‘, mir wird‘s in Amerika gefallen, dachte er.
Im Speiseraum sei nur Platz für vierzehn Passagiere, erklärte der Steward, das Abendessen werde daher in drei Schichten serviert. »Möchten Sie um sechs, halb acht oder um neun Uhr essen, Mr. Vandenpost?«
Harry begriff sofort: Das konnte die ersehnte Chance sein! Aßen die Oxenfords früher oder später als er, so blieb er womöglich vorübergehend allein im Abteil. Doch für welche Zeit würden sie sich entscheiden? Insgeheim verfluchte Harry den Steward, weil er ihn zuerst gefragt hatte. Ein englischer Steward hätte automatisch zuerst die Leute mit den Adelstiteln gefragt, aber dieser demokratische Amerikaner richtete sich wahrscheinlich nach den Sitzplatznummern. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu raten, für welche Zeit sich die Oxenfords entscheiden würden. »Da muß ich direkt überlegen«, sagte er, um Zeit zu gewinnen. Seiner Erfahrung nach aßen die Reichen meistens spät. Ein Arbeiter frühstückt meist um sieben, ißt um zwölf zu Mittag und um fünf zu Abend. Ein Lord hingegen frühstückt nicht vor neun, ißt um zwei zu Mittag und um halb neun zu Abend. Die Oxenfords werden also spät essen. Harry beschloß, den Anfang zu machen. »Ich bin ziemlich hungrig«, sagte er. »Ich esse um sechs.«
Der Steward wandte sich an die Oxenfords, und Harry hielt den Atem an.
Lord Oxenford sagte: »Neun Uhr, denke ich.«
Harry unterdrückte ein zufriedenes Grinsen.
Da mischte sich Lady Oxenford ein. »So lange kann Percy nicht warten – laß uns früher essen.«
Na schön, dachte Harry beunruhigt, aber bloß nicht zu früh, um Himmels willen!
»Also halb acht«, sagte Lord Oxenford.
Freudige Erregung erfüllte Harry: Er war dem Delhi-Ensemble einen Schritt näher gekommen.
Der Steward wandte sich nun an den Passagier, der Harry gegenübersaß, den Kerl im weinroten Jackett, der wie ein Polizist aussah. Er hatte sich als Clive Membury vorgestellt. Sag schon halb acht, dachte Harry, und laß mich hier allein. Zu seinem Leidwesen jedoch war Membury nicht hungrig und entschied sich für neun Uhr.
So ein Mist, dachte Harry, nun lungert Membury hier herum, während die Oxenfords zu Abend essen. Aber vielleicht verließ er ja mal für ein paar Minuten das Abteil? Er war einer von der unruhigen Sorte, ständig auf Trab. Falls er nicht aus freien Stücken ging, mußte Harry sich etwas einfallen lassen, um ihn loszuwerden. Allerdings hätte er sich dafür wohl kaum einen schwierigeren Ort als ein Flugzeug aussuchen können: Hier konnte er dem Mann ja nicht gut erzählen, in einem anderen Zimmer sei nach ihm gefragt worden oder er würde am Telefon verlangt oder draußen auf der Straße stünde eine nackte Frau. Nein, hier war diese Nuß wohl schwieriger zu knacken.
Der Steward sagte: »Mr. Vandenpost, wenn Sie keine Einwände haben, werden sich der Ingenieur und der Navigator bei Tisch zu Ihnen gesellen.«
»Aber gerne«, meinte Harry. Er freute sich auf die Unterhaltung mit den Besatzungsmitgliedern.
Lord Oxenford bestellte sich einen zweiten Whisky. Ein Mann mit einem großen Durst, wie die Iren zu sagen pflegten. Seine Frau war blaß und ruhig. Auf ihren Knien lag ein aufgeschlagenes Buch, doch sie hatte noch kein einziges Mal umgeblättert und wirkte sehr bedrückt.
Der junge Percy begab sich nach vorn zu einem Plausch mit den dienstfreien Crewmitgliedern, dann kam Margaret und setzte sich neben Harry. Er schnupperte ihr Parfum und erkannte den Duft von Tosca. Sie hatte ihren Mantel abgelegt. Er sah jetzt, daß sie die gleiche Figur wie ihre Mutter hatte: ziemlich groß, mit eckigen Schultern, großer Büste und langen Beinen. Ihre Garderobe, die von guter Qualität, aber sehr schlicht war, wurde ihr nicht gerecht: Harry konnte sie sich gut im langen Abendkleid mit tiefem Ausschnitt vorstellen, das rote Haar hochgesteckt, der lange weiße Hals geschmückt mit Ohrringen von Cartier, tropfenförmig geschliffene Smaragde aus seiner indischen Periode… Margaret würde umwerfend aussehen. Allerdings hatte sie offensichtlich ein anderes Bild von sich. Sie schämte sich, eine reiche Aristokratin zu sein, und kleidete sich deswegen wie eine Pfarrersfrau.
Das Mädchen war eine Wucht, und obwohl er auch ihre schwachen Seiten erkannte, war Harry ein wenig eingeschüchtert. Ihre Schwächen machten sie nur noch liebenswerter. Liebenswert hin, liebenswert her, dachte er, Harry, mein Junge, vergiß ja nicht, daß sie eine Gefahr für dich ist und daß du
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