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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Türen?«
    »Jawohl, Sir.«
    Harry probierte eine der Türen. Sie war nicht verschlossen. In dem Raum lagerten die Koffer und Überseekisten der Passagiere, sorgfältig aufeinandergestapelt und mit Seilen an den Querstreben vertäut, damit sie während des Flugs nicht ins Rutschen kamen.
    Irgendwo dort warteten das Delhi-Ensemble und ein Leben voller Luxus auf Harry Marks.
    Clive Membury schaute Harry über die Schulter. »Faszinierend«, murmelte er.
    »Das können Sie laut sagen«, gab Harry zurück.
    Margaret befand sich in Hochstimmung und vergaß dabei immer wieder, daß sie eigentlich gar nicht nach Amerika wollte. Zudem konnte sie es kaum fassen, daß sie sich mit einem echten Dieb angefreundet hatte! Wäre sonstwer zu ihr gekommen und hätte behauptet: »Ich bin ein Dieb.« – sie hätte ihm keinen Glauben geschenkt. Aber Harry war über jeden Zweifel erhaben – schließlich hatte sie ihn auf einer Polizeiwache kennengelernt und wußte, was man ihm vorwarf.
    Menschen, die außerhalb der geordneten bürgerlichen Gesellschaft standen, hatten sie schon immer fasziniert: Verbrecher, Lebenskünstler, Anarchisten, Prostituierte, Vagabunden. Sie schienen so frei zu sein. Schon möglich, daß sie sich keinen Champagner leisten, nicht nach New York fliegen und ihre Kinder nicht zur Universität schicken konnten – so naiv, daß sie die Grenzen und Nachteile des Außenseiterdaseins verkannt hätte, war auch Margaret nicht. Aber Menschen von Harrys Schlag ließen sich nicht zu Befehlsempfängern degradieren, und das imponierte ihr. In ihren Träumen sah sie sich oft als Guerillakämpferin: Sie lebte in den Bergen, trug Hosen und war bewaffnet. Was sie zu essen brauchte, stahl sie, und sie schlief unter dem Stemenhimmel und genoß es, nie mehr etwas Gebügeltes anziehen zu müssen.
    Solche Leute begegneten ihr sonst nie – und wenn doch, dann schätzte sie sie falsch ein. Hatte sie nicht in der »verrufensten Straße Londons« auf einer Türschwelle gesessen, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß man sie für eine Hure halten würde? Es schien schon eine Ewigkeit her zu sein und war doch erst letzte Nacht gewesen.
    Die Bekanntschaft mit Harry war das Interessanteste, was ihr seit langer Zeit widerfahren war. In ihm nahmen all ihre Sehnsüchte Gestalt an. Er konnte tun und lassen, was er wollte! Heute morgen hatte er beschlossen, nach Amerika zu fliegen, und schon am Nachmittag befand er sich auf dem Weg dorthin. Wenn er die Nacht durchtanzen und den Tag verschlafen wollte, dann tat er es. Er aß und trank nach Belieben, wann und wo es ihm paßte – im Ritz, im Pub oder an Bord des Pan-American-Clippers. Er konnte der Kommunistischen Partei beitreten und wieder austreten, ohne sich vor irgend jemandem rechtfertigen zu müssen. Brauchte er Geld, so nahm er es sich von denjenigen, die mehr besaßen, als ihnen zustand. Ein echter Freigeist! Margaret wollte unbedingt mehr über ihn erfahren. Daß sie das Abendessen ohne seine Gesellschaft hinter sich bringen mußte, empfand sie als reine Zeitverschwendung.
    Im Speisesaal standen drei Tische, an denen je vier Personen Platz nehmen konnten. Am Tisch neben den Oxenfords saßen Baron Gabon und Carl Hartmann. Vater hatte sie – wahrscheinlich, weil sie Juden waren – beim Eintreten mit einem vernichtenden Blick gestraft. Am gleichen Tisch saßen außerdem Ollis Field und Frank Gordon. Frank Gordon war älter als Harry, ein gutaussehender Teufelskerl, wenngleich mit einem brutalen Zug um den Mund. Ollis Field war ein farbloser älterer Mann mit Vollglatze. In Foynes hatten die beiden die Aufmerksamkeit der übrigen Passagiere erregt, weil sie als einzige an Bord geblieben waren.
    Am dritten Tisch saßen Lulu Bell und Prinzessin Lavinia, die lauthals darüber Klage führte, daß die Sauce auf ihrem Krabbencocktail versalzen sei. Auch Mr. Lovesey und Mrs. Lenehan, die in Foynes zugestiegen waren, hatten an diesem Tisch Platz genommen. Percy wußte zu berichten, daß die beiden sich die Honeymoon Suite teilten, obwohl sie nicht verheiratet waren. Margaret wunderte sich darüber, daß Pan American so etwas zuließ. Vielleicht drücken die Verantwortlichen ein Auge zu, weil im Moment so viele Menschen um jeden Preis nach Amerika wollen, dachte sie.
    Percy trug ein schwarzes Judenkäppchen auf dem Hinterkopf, als er sich zu Tisch setzte. Margaret kicherte. Wo hatte er das nur wieder aufgetrieben? Vater riß es ihm vom Kopf und fauchte wütend: »Dummer Bengel!«
    Mutters

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