Nacht über den Wassern
Gesicht war noch immer wie versteinert. Seitdem sie aufgehört hatte, um Elizabeth zu weinen, hatte sich ihr Ausdruck nicht verändert. Zerstreut sagte sie: »Ist es nicht schrecklich früh zum Abendessen?«
»Es ist halb acht«, gab Vater zurück.
»Warum wird es denn nicht dunkel?«
»Zu Hause in England ist es ja dunkel«, erwiderte Percy. »Wir befinden uns jedoch mittlerweile dreihundert Meilen von der irischen Küste entfernt. Wir jagen der Sonne nach.«
»Aber irgendwann wird es doch dunkel werden.«
»So gegen neun, glaube ich«, sagte Percy.
»Na gut«, erwiderte Mutter zerstreut.
»Ist dir eigentlich klar, daß wir die Sonne mit der entsprechenden Geschwindigkeit einholen könnten und daß es dann nie dunkel würde?« meinte Percy.
Vater gab herablassend zurück: »Meiner Ansicht nach werden die Menschen nie imstande sein, derartig schnelle Flugzeuge zu bauen.« Der Steward Nicky servierte den ersten Gang. »Für mich bitte nicht«, erklärte Percy. »Krabben sind nicht koscher.«
Der Steward sah ihn verdutzt an, sagte aber nichts. Vater lief puterrot an.
Margaret wechselte rasch das Thema. »Wie lange dauert es bis zur nächsten Zwischenlandung, Percy?« In solchen Dingen kannte er sich aus.
»Die Flugzeit nach Botwood beträgt sechzehneinhalb Stunden«, erwiderte ihr Bruder. »Wir sollten dort um neun Uhr morgens britischer Sommerzeit ankommen.«
»Aber wieviel Uhr ist es dann vor Ort?«
»Neufundland Standard Time liegt dreieinhalb Stunden hinter Greenwich Mean Time.«
»Dreieinhalb?« Margaret war verblüfft. »Daß es Orte gibt, an
denen die Zeitverschiebung in halben Stunden gerechnet wird, wußte ich auch nicht.«
Percy fuhr fort: »In Botwood haben sie im Augenblick Sommerzeit, genau wie in Großbritannien. Wir werden also morgens um halb sechs landen.«
»Da wache ich bestimmt nicht auf«, sagte Mutter mit matter Stimme.
»Doch, sicher«, gab Percy ungeduldig zurück. »Du wirst nämlich das Gefühl haben, es sei schon neun.«
»Jungen haben nun mal einen Sinn fürs Technische«, murmelte Mutter.
Margaret ärgerte sich jedesmal, wenn ihre Mutter sich dumm stellte. Mrs. Oxenford hielt es für unweiblich, technische Einzelheiten zu verstehen. »Kluge Frauen sind bei den Männern nicht sehr beliebt, Liebes«, hatte sie ihrer Tochter wiederholt eingeschärft. Margaret verzichtete mittlerweile darauf, ihr zu widersprechen, glaubte ihr deswegen aber noch lange nicht. Ihrer Meinung nach galt das nur für dumme Männer. Kluge Männer liebten kluge Frauen.
Die Stimmen am Nebentisch waren ein wenig lauter geworden. Baron Gabon und Carl Hartmann stritten sich, und ihre Tischnachbarn sahen ihnen perplex und wortlos dabei zu. Margaret fiel ein, daß Gabon und Hartmann immer, wenn sie ihnen begegnete, in eine angeregte Diskussion vertieft waren. Überraschend war das wohl kaum: Wer die Gelegenheit hat, sich mit einem der klügsten Köpfe der Welt unterhalten zu können, kann auf den üblichen Small talk gut verzichten. Sie hörte das Wort »Palästina«. Wahrscheinlich redeten sie über Zionismus. Beunruhigt blickte sie zu ihrem Vater hinüber. Auch er hatte gehört, worum es ging – entsprechend übel war seine Laune. Bevor er etwas sagen konnte, meinte Margaret: »Wir werden durch einen Sturm fliegen. Es kann ganz schön holprig werden.«
»Woher weißt du das denn?« fragte Percy. In seiner Stimme schwang Neid mit: Schließlich war er der Flugexperte, nicht Margaret.
»Das hat Harry mir gesagt.«
»Und woher will der das wissen?«
»Er hat mit dem Ingenieur und dem Navigator zu Abend gegessen.«
»Ich hab‘ keine Angst vor dem Sturm«, erklärte Percy, obwohl seine Stimme eher aufs Gegenteil schließen ließ.
Margaret war es noch gar nicht in den Sinn gekommen, sich wegen des Sturms Gedanken zu machen. Ungemütlich mochte es ja werden – aber doch wohl nicht ernsthaft gefährlich.
Vater leerte sein Glas und bat den Steward gereizt um mehr Wein. Fürchtete er sich etwa vor dem Sturm? Es war ihr bereits aufgefallen, daß er noch mehr als gewöhnlich trank. Sein Gesicht war gerötet, seine wäßrigen Augen wirkten starr. War er nervös? Vielleicht hatte auch er die Sache mit Elizabeth noch nicht verwunden.
»Margaret, du solltest dich ein bißchen mehr mit diesem bescheidenen Mr. Membury unterhalten«, meinte Mutter jetzt.
Margaret staunte. »Wieso denn? Er macht ganz den Eindruck, als wolle er in Ruhe gelassen werden.«
»Ich glaube, das ist nur Schüchternheit.«
Mitleid mit
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