Nacht über den Wassern
sie. Ihre Unterwäsche war aus einfacher weißer Baumwolle. Ob sie noch Jungfrau war?
Eine kleine gerahmte Fotografie zeigte einen jungen Mann um die zwanzig. Es war ein gutaussehender Bursche mit nicht zu kurzem dunklem Haar und schwarzen Augenbrauen, der eine akademische Robe und die dazugehörige flache, quadratische Kopfbedeckung trug: vermutlich der Knabe, der in Spanien ums Leben gekommen war. Ob sie mit ihm geschlafen hatte? Harry hielt das trotz der schulmädchenhaften Unterhöschen für gut möglich. Sie las ein Buch von D. H. Lawrence. Jede Wette, daß ihre Mutter davon keine Ahnung hat, dachte Harry. Er fand noch einen Stapel leinene Taschentücher, die mit den Initialen »M.O.« bestickt waren und nach Tosca dufteten.
Keine Spur von den Juwelen, verflucht noch mal!
Harry beschloß, eines der bestickten Taschentücher als Andenken einzustecken. Kaum hatte er es in der Hand, schritt Steward Davy mit einem Tablett, auf dem sich leere Suppenschüsseln türmten, durch das Abteil.
Er warf einen Blick auf Harry, blieb stehen und runzelte die Stirn. Margarets Tasche sah natürlich ganz anders aus als die ihres Vaters, und daß Harry nicht beide gehören konnten, war sonnenklar. Der Passagier mußte sich also am Gepäck anderer Leute zu schaffen gemacht haben.
Davy starrte ihn einen Augenblick lang an. In seinem Blick lag ebenso viel Mißtrauen wie die Besorgnis, er könne einen Passagier zu Unrecht beschuldigen. Schließlich stammelte er: »Sir, ist das Ihre Tasche?«
Harry zeigte ihm das kleine Taschentuch. »Würde ich mir damit die Nase putzen?« Er schloß das Köfferchen und legte es an seinen Platz zurück.
Davys Skepsis war noch nicht ganz überwunden, und Harry sagte: »Sie hat mich gebeten, es für sie zu holen. Was man nicht so alles tut …«
Davys Miene war wie ausgewechselt und wirkte jetzt eher beschämt. »Es tut mir leid, Sir, aber ich hoffe, Sie haben Verständnis …«
»Freut mich, daß Sie so auf der Hut sind«, meinte Harry. »Nur weiter so.« Er tätschelte Davys Schulter. Nun mußte er Margaret das verdammte Taschentuch bringen, um seiner Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen. Er ging in den Speisesaal.
Sie saß mit Eltern und Bruder an einem Tisch. Harry hielt das Taschentuch hoch und sagte: »Das haben Sie fallen gelassen.«
Sie war überrascht. »Wirklich? Vielen Dank!«
»Gern geschehen.« Harry machte auf dem Absatz kehrt. Ob Davy die Geschichte nachprüfen und Margaret fragen würde? Wohl kaum.
Er eilte durch sein eigenes Abteil, vorbei an der Kombüse, wo Davy schmutziges Geschirr stapelte, und erklomm die Wendeltreppe. Wie, um alles in der Welt, sollte er in die Ladeluke kommen? Er wußte nicht einmal, wo sie sich befand, denn er hatte beim Verladen des Gepäcks nicht zugesehen. Er mußte sich unbedingt etwas einfallen lassen.
Captain Baker war eben dabei zu erklären, wie sie die Navigation über dem konturlosen Ozean bewältigten. »Wir befinden uns größtenteils außer Reichweite der Funksignale, daher sind die Sterne unser bester Leitfaden – wenn sie sich blicken lassen.« Membury sah zu Harry auf. »Kein Fotoapparat?« fragte er scharf.
Zweifellos ein Bulle, dachte Harry. »Ich hab‘ vergessen, einen Film einzulegen«, sagte er. »Ganz schön blöd, nicht wahr?« Er sah sich um. »Wie kann man denn von hier drinnen aus die Sterne sehen?«
»Ach, der Navigator geht fix ein paar Schritte vor die Tür«, erwiderte der Captain, ohne eine Miene zu verziehen. Dann fügte er grinsend hinzu: »War nur ein Witz. Wir haben ein Observatorium. Ich zeig‘s Ihnen.« Er öffnete eine Tür am rückwärtigen Ende des Flugdecks und ging hinaus. Harry folgte ihm und stand in einem schmalen Gang. Der Captain deutete nach oben und sagte: »Dort ist die Kuppel des Observatoriums.« Harry sah desinteressiert hinauf; seine Gedanken kreisten immer noch um Lady Oxenfords Juwelen. Im Dach befand sich eine gläserne Kuppel, und an einem Haken an der Seite hing eine Klappleiter. »Jedesmal, wenn die Wolkendecke aufbricht, klettert der Navigatorr mit seinem Oktanten hinauf. Es dient uns außerdem als Ladeluke für die Fracht.«
Mit einemmal war Harry hellwach und bei der Sache. »Das Gepäck kommt durch das Dach herein?« fragte er.
»Ja. Genau hier.«
»Und wo wird es dann aufbewahrt?«
Der Captain deutete auf zwei gegenüberliegende Türen an beiden Seiten des Gangs. »In den Ladeluken.«
Harry konnte sein Glück kaum fassen. »Das Gepäck befindet sich also hinter diesen
Weitere Kostenlose Bücher