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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Sozialismus gleichermaßen versagt hätten und daß dem Mann auf der Straße auch mit der Demokratie nicht geholfen werden konnte. Die Vorstellung eines allmächtigen Staates, in dem die Industrie von einem wohlmeinenden Diktator gelenkt wird, hatte durchaus etwas Verführerisches an sich gehabt. Ebch inzwischen waren jene hohen Ideale und kühnen politischen Richtungen zu hirnloser Heuchelei verkommen. Als sie zu Hause in der Bibliothek bei Shakespeare den Satz »O welch ein edler Geist ist hier zerstört!« gefunden hatte, fühlte sie sich an Vater erinnert.
    Die beiden Männer hatten Vaters ausfällige Bemerkung wahrscheinlich nicht gehört, denn sie saßen mit dem Rücken zu ihnen und waren völlig in ihre Unterhaltung vertieft. Um Vater auf andere Gedanken zu bringen, fragte Margaret munter: »Um wieviel Uhr wollen wir denn schlafen gehen?«
    Percy sagte: »Ich möchte mich früh hinlegen.« Das war ungewöhnlich, aber er war natürlich neugierig darauf, wie es war, an Bord eines Flugzeugs schlafen zu gehen.
    »Wir gehen zur gleichen Zeit wie sonst auch zu Bett«, sagte Mutter.
    »Aber in welcher Zeitzone?« wollte Percy wissen. »Soll ich um halb elf britischer Sommerzeit oder um halb elf Neufundländer Sommerzeit schlafen gehen?«
    »Amerika ist rassistisch!« bemerkte Baron Gabon. »Und Frankreich ebenso… England… die Sowjetunion… allesamt rassistische Staaten!«
    »Um Himmels willen!« stieß Vater hervor.
    Margaret sagte: »Um halb zehn möchte ich geh‘n.«
    Percy entging der Reim nicht. »Um fünf nach zehn kann ich nicht mehr steh‘n«, konterte er.
    Dieses Spiel hatten sie als Kinder gespielt. Mutter machte ebenfalls mit. »Um Viertel nach zehn ist‘s um mich gescheh‘n.«
    »Um Viertel vor leg‘ ich mich aufs Ohr.«
    »Um zwanzig nach geh‘ ich ins Schlafgemach.«
    »Du bist dran, Vater«, sagte Percy.
    Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Früher hatte Vater sich an diesem Spiel beteiligt – früher, das heißt, bevor Verbitterung und Enttäuschung von ihm Besitz ergriffen. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden seine Züge weicher, und Margaret dachte schon, er wolle tatsächlich mitmachen.
    Doch da sagte Carl Hartmann: »Aber warum dann noch einen rassistischen Staat gründen?«
    Das brachte das Faß zum Überlaufen. Wutentbrannt fuhr Vater herum. Sein Kopf glühte. Bevor ihn jemand daran hindern konnte, stieß er hervor: »Ihr Judenbengel verhaltet euch besser ruhig!« Hartmann und Gabon starrten ihn entgeistert an. Margaret spürte, daß sie rot anlief. Vater hatte so laut gesprochen, daß jeder ihn verstanden hatte. Im Raum war es totenstill geworden. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Die Vorstellung, die Leute könnten sie ansehen und dabei denken: Und das ist also die Tochter dieses rüpelhaften Trunkenbolds, entsetzte sie zutiefst. Ihre und Nickys Blicke kreuzten sich, und an seinem Blick erkannte sie, daß er Mitleid mit ihr hatte. Das machte die Sache nur noch schlimmer.
    Baron Gabon war blaß geworden. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er etwas erwidern, aber dann entschied er sich anders und wandte den Blick ab. Hartmann verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Für jemanden, der aus Nazi-Deutschland kommt, ist dies vielleicht bloß ein harmloser Zwischenfall, schoß es Margaret durch den Kopf.
    Vater war noch nicht fertig. »Dies ist die erste Klasse«, fügte er hinzu.
    Margaret beobachtete Baron Gabon. In dem Bemühen, Vater zu ignorieren, griff er nach dem Löffel, aber seine Hand zitterte so sehr, daß er die Suppe über sein taubengraues Jackett goß. Er gab den Versuch auf und legte den Löffel aus der Hand.
    Margaret berührte dieses unübersehbare Zeichen seiner inneren Qual zutiefst. Sie war ihrem Vater bitterböse. Endlich fand sie den Mut, ihm die Meinung zu sagen. »Du hast soeben zwei der angesehensten Männer Europas zutiefst beleidigt!« fuhr sie ihn wütend an.
    »Zwei der angesehensten Juden Europas«, gab er zurück.
    »Vergiß Oma Fishbein nicht«, sagte Percy.
    Nun ging Vater auf Percy los, drohte ihm mit dem Finger und sagte: »Mit diesem Unfug hörst du sofort auf, verstanden?«
    »Ich muß aufs Klo«, sagte Percy und erhob sich. »Mir ist schlecht.« Er verließ den Raum.
    Margaret begriff, daß Percy und sie ihrem Vater die Stirn geboten hatten, ohne daß er dagegen etwas hatte ausrichten können. Ein Meilenstein, dachte sie.
    Vater senkte die Stimme und wandte sich an Margaret. »Vergiß nicht, daß diese Leute uns aus

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