Nacht über den Wassern
die Jalousien hoch. Draußen war hellichter Tag. Sie beobachtete ihn, wie er ihr Kaffee einschenkte. Die Ereignisse der vergangenen Nacht standen lebhaft vor ihren Augen: Mervyn, der ihr während des Sturms die Hand hielt; sie beide, wie sie zu Boden stürzten; seine Hand auf ihrer Brust; sie, wie sie sich an ihn klammerte, während das Flugzeug schlingerte und bockte; er, wie er sie in den Schlaf streichelte … Mein Gott, dachte sie, ich mag diesen Mann wirklich sehr.
»Wie trinkst du deinen Kaffee?« fragte er.
»Schwarz, ohne Zucker.«
»Genau wie ich.« Er reichte ihr die Tasse.
Sie trank den Kaffee dankbar und wurde plötzlich neugierig, wollte hundert verschiedenerlei Dinge über Mervyn wissen. Spielte er Tennis, ging er ins Theater, kaufte er gerne ein? Las er viel? Wie band er seine Krawatte? Putzte er seine Schuhe selbst? Sie sah, wie er die Kaffeetasse zum Mund führte und trank. Ihr fiel auf, daß sie bereits eine ganze Menge über ihn erraten konnte: Wahrscheinlich spielte er Tennis, las jedoch kaum je Romane und ging ganz bestimmt nicht gerne einkaufen. Er war wahrscheinlich ein guter Pokerspieler und ein schlechter Tänzer.
»An was denkst du?« fragte er. »Du beäugst mich, als überlegtest du, ob ich ein annehmbares Risiko für eine Lebensversicherung bin.«
Sie lachte auf. »Was für Musik magst du?«
»Ich habe überhaupt kein musikalisches Gehör«, sagte er. »Vor dem Krieg, als ich ein junger Bursche war, war Ragtime in den Tanzdielen der letzte Schrei, Ich mochte den Rhythmus, obwohl ich nie ein besonders guter Tänzer war. Und du?«
»Ach, ich habe viel getanzt – mußte es. Jeden Samstagmorgen stiefelte ich im weißen Spitzenkleid und weiß behandschuht los, um mit zwölfjährigen Knaben, die man in Anzüge gesteckt hatte, Gesellschaftstänze zu lernen. Meine Mutter dachte, sie könnte mir auf diese Weise das Entree in die höchsten Kreise der Bostoner Gesellschaft verschaffen, was natürlich nicht klappte. Aber Gott sei Dank war mir das völlig gleichgültig. Ich interessierte mich mehr für Pa‘s Fabrik – sehr zum Mißvergnügen meiner Mutter. Hast du im Krieg gekämpft?« »Ja.« Er verzog das Gesicht. »Ich war in Ypern, und damals schwor ich mir, nie wieder untätig zuzusehen, wie eine Generation junger Männer in einen solchen Tod geschickt wird. Aber mit Hitler habe ich nicht gerechnet.«
Sie sah ihn mitfühlend an, und Mervyn schaute auf und erwiderte ihren Blick. Sie sahen einander in die Augen, und Nancy wußte, daß sie nun beide an die vergangene Nacht denken mußten, daran, wie sie sich geküßt und gestreichelt hatten. Unvermittelt war ihr wieder alles peinlich. Sie schaute fort, sah aus dem Fenster und erblickte Land. In Botwood werde ich telefonieren, dachte sie. Gut möglich, daß das Gespräch mein Leben verändern wird – zum Guten oder zum Schlechten. »Wir sind schon fast da!« rief sie und sprang aus dem Bett. »Ich muß mich anziehen.«
»Laß mich zuerst gehen«, sagte er. »Das macht einen besseren Eindruck.«
»Einverstanden.« Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch einen Ruf zu verteidigen hatte, aber das wollte sie jetzt nicht sagen. Sie sah ihm zu, wie er den Kleiderbügel mit dem Anzug und die Papiertüte mit den sauberen Sachen nahm, die er zusammen mit dem Nachthemd in Foynes gekauft hatte: ein weißes Hemd, schwarze Wollsocken und graue Baumwollunterwäsche. An der Tür zögerte er einen Augenblick, und sie erriet, daß er sich fragte, ob er sie wohl je wieder küssen würde. Sie ging zu ihm hin und hob ihm ihr Gesicht entgegen. »Vielen Dank, daß du mich die ganze Nacht über in den Armen gehalten hast«, sagte sie.
Er beugte sich hinab und küßte sie; es war ein sanfter, langer Kuß mit geschlossenen Lippen. Dann trennten sie sich.
Nancy öffnete ihm die Tür, und Mervyn ging hinaus.
Sie schloß die Tür mit einem Seufzer. Ich glaube, ich könnte mich richtig in ihn verlieben, dachte sie.
Ob ich das Nachthemd je wiedersehen werde?
Sie blickte aus dem Fenster. Das Flugzeug verlor allmählich an Höhe. Sie mußte sich beeilen.
Geschwind bürstete sie ihr Haar vor der Frisierkommode, griff das Köfferchen und begab sich auf die Damentoilette, die gleich neben der Honeymoon Suite lag. Dort begegnete sie Lulu Bell und einer anderen Frau, Mervyns Frau aber zum Glück nicht. Sie hätte gerne gebadet, mußte sich aber mit einer gründlichen Wäsche am Becken begnügen. Sie hatte frische Unterwäsche und eine saubere marineblaue
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