Nacht über den Wassern
Bluse dabei, die sie nun anstelle der grauen zu ihrem roten Kostüm tragen wollte. Beim Anziehen rief sie sich noch einmal die morgendliche Unterhaltung mit Mervyn ins Gedächtnis zurück. Der Gedanke an ihn machte sie glücklich, aber hinter dieser Empfindung verbarg sich ein gewisses Unbehagen. Wieso? Sobald sie sich die Frage erst einmal gestellt hatte, war die Antwort sonnenklar: Er hatte keinen Ton über seine Frau verloren. Gestern nacht hatte er noch zugegeben, »völlig durcheinander« zu sein, aber seitdem herrschte Schweigen. Wollte er Diana zurückhaben? Liebte er sie noch immer? Er hat mich die ganze Nacht über in den Armen gehalten, aber darüber vergißt man nicht eine ganze Ehe – nicht unbedingt.
Und was will ich eigentlich? fragte sie sich. Gewiß, ich würde Mervyn gerne wiedersehen, mit ihm ausgehen, wahrscheinlich sogar eine Affäre mit ihm haben. Aber will ich wirklich, daß er meinetwegen seine Ehe aufgibt? Wie kann ich das überhaupt wissen, nach einer einzigen Nacht voll unerfüllter Leidenschaft? Sie hielt beim Auftragen des Lippenstiftes inne und starrte ihr Spiegelbild an. Schluß mit dem Unsinn, Nancy, befahl sie sich. Du kennst die Wahrheit, weißt, dass du diesen Mann willst. Er ist seit zehn Jahren der erste, der dir wirklich gefällt. Du bist vierzig Jahre und einen Tag alt und hast genau den Richtigen getroffen. Hör auf, dir selbst etwas vorzumachen, und sieh zu, daß dir der Fisch nicht mehr von der Angel springt.
Sie trug Parfüm auf und verließ den Raum.
Als sie herauskam, fiel ihr Blick auf Nat Ridgeway und ihren Bruder Peter, die die Sitze neben der Damentoilette einnahmen. Nat begrüßte sie: »Guten Morgen, Nancy.« Sie erinnerte sich wieder daran, was sie fünf Jahre zuvor für diesen Mann empfunden hatte. Ja, dachte sie, ich hätte mich mit der Zeit in ihn verlieben können, aber wir hatten keine Zeit. Vielleicht hab‘ ich Glück gehabt, und er war an Black‘s Boots mehr interessiert als an mir – schließlich versucht er noch immer, sich die Firma unter den Nagel zu reißen. Hinter mir ist er bestimmt nicht mehr her. Sie nickte ihm kurz zu und verschwand in der Suite.
Die Kojen waren wieder zum Sofa umgebaut worden, Mervyn war frisch rasiert und saß im dunkelgrauen Anzug und weißen Hemd auf dem Fensterplatz. »Schau hinaus«, sagte er. »Wir sind gleich da.« Nancy blickte hinaus und sah Land. Sie flogen in niedriger Höhe über einen dichten Kiefernwald, der von silbrig schimmernden Flüssen durchzogen war. Doch schon wichen die Bäume wieder dem Wasser, allerdings nicht dem tiefen dunklen Wasser des Atlantiks, sondern einer ruhigen grauen Meeresbucht. Auf dem jenseitigen Ufer waren ein Hafen und eine Ansammlung von Holzhäusern zu erkennen, die von einer Kirche gekrönt wurden.
Das Flugzeug verlor schnell an Höhe. Nancy und Mervyn saßen auf dem Sofa, hatten die Gurte angelegt und hielten einander die Hände. Als der Rumpf die Flußoberfläche durchpflügte, spürte Nancy den Aufschlag kaum. Erst als die Fenster von der Gischt verdunkelt wurden, war sie sicher, daß die Maschine aufgesetzt hatte.
»Na also«, sagte sie, »ich habe den Atlantik überflogen.«
»Tja, das kann nicht jeder von sich behaupten.«
Sehr mutig kam sie sich nicht vor. Sie hatte die eine Hälfte der Reise damit zugebracht, sich über ihr Geschäft den Kopf zu zerbrechen, und die übrige Zeit mit dem Mann einer anderen Händchen gehalten. An den Flug selbst hatte sie nur gedacht, wenn der Sturm die Maschine durchschüttelte und sie in heillose Angst versetzte. Was sollte sie nur den Jungen erzählen? Die beiden würden von ihr jede Einzelheit wissen wollen – und sie konnte nicht einmal sagen, wie schnell die Maschine flog. Ich werde mich rechtzeitig vor der Landung in New York noch informieren, nahm sie sich vor.
Sobald das Flugzeug zum Stillstand gekommen war, machte seitlich ein Boot fest. Nancy zog ihren Mantel über und Mervyn seine lederne Fliegerjacke. Ungefähr die Hälfte der Passagiere hatte beschlossen, die Maschine zu verlassen und sich die Beine zu vertreten, während die anderen noch hinter festgezurrten blauen Vorhängen in ihren Kojen lagen.
Sie gingen durch den Salon, traten auf den gedrungenen Seeflügel hinaus und bestiegen das Boot. Die Luft roch nach Meer und frischgeschlagenem Holz: Wahrscheinlich befand sich irgendwo in der Nähe ein Sägewerk. Unweit des Clippers wartete ein Tankschiff mit der Aufschrift SHELL AVIATION SERVICE, auf dem Männer in weißen
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