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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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erholen.« Er beugte sich schnell hinunter und hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. Das kam völlig unerwartet für sie, und sie errötete. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Sie sind sehr tapfer.« Damit verließ er sie.
    Frauen mittleren Alters waren sogar noch leichter zu betören als ihre Töchter, dachte er. Auf dem leeren Korridor sah er sich im Spiegel. Er blieb stehen, zupfte seine Fliege zurecht und grinste sein Spiegelbild triumphierend an. »Du bist ein Teufelskerl, Harold«, lobte er sich.
    Die Party neigte sich ihrem Ende zu. Als Harry in den Salon zurückkehrte, fragte Rebecca gereizt: »Wo warst du so lange?«
    »Ich habe mit unserer Gastgeberin geplaudert«, antwortete er. »Entschuldige. Wollen wir gehen?«
    Er verließ das Haus mit den Manschettenknöpfen seines Gastgebers und zwanzig Pfund in der Brusttasche.
    Direkt am Belgrave Square bekamen sie ein Taxi und fuhren zu einem Restaurant in Piccadilly. Harry liebte gute Restaurants. Die gestärkten Servietten, die polierten Gläser, die Speisekarte auf französisch und die zuvorkommenden, ja ehrerbietigen Kellner lösten ein tiefes Wohlbehagen in ihm aus. Sein Vater hatte so ein Lokal nie von innen gesehen, seine Mutter vielleicht, aber nur, falls sie in einem geputzt hatte. Er bestellte eine Flasche Sekt, nachdem er die Getränkekarte sorgfältig studiert und einen Jahrgang gewählt hatte, von dem er wußte, daß er gut, aber keine Seltenheit und der Preis deswegen nicht zu hoch war.
    Als er anfing, Mädchen in Restaurants zu führen, hatte er ein paar Fehler gemacht. Aber er hatte rasch gelernt. Ein nützlicher Trick war, die Speisekarte ungeöffnet neben sich zu legen und zu sagen: »Ich hätte gerne Seezunge, haben Sie welche?« Dann schlug der Kellner die Speisekarte auf und deutete auf Sole meuniere, Les goujons de sole avec sauce tartare und Sole grillee, und wenn er bemerkte, daß er zögerte, sagte er meistens: »Ich kann Ihnen heute die goujons sehr empfehlen, mein Herr.« Harry kannte bald die französischen Namen der wichtigsten Speisen. Es entging ihm auch nicht, daß Gäste, die solche Lokale frequentierten, die Kellner oft fragten, was denn ein bestimmtes Gericht auf der Karte war. Reiche Engländer mußten nicht unbedingt Französisch verstehen. Danach machte er es sich zur Gewohnheit, jedesmal, wenn er in einem vornehmen Restaurant speiste, nach der Übersetzung des einen oder anderen Ausdrucks auf der Karte zu fragen. Inzwischen kannte er sich mit Speisekarten besser aus als die meisten vornehmen Herren seines Alters. Auch der Wein war kein Problem. Weinkellner freuten sich sogar gewöhnlich, wenn man sie ersuchte, bei der Auswahl des Weines zu helfen; sie erwarteten nicht, daß ein junger Mann sich mit all den Weingütern und Rebsorten und Jahrgängen auskannte. Der Trick in Restaurants war, wie im Leben überhaupt, völlig gelassen zu wirken, vor allem, wenn man es nicht war.
    Der Sekt war gut, aber seine Laune leider nicht. Es lag an Rebecca, wie ihm bald klarwurde. Immer wieder mußte er daran denken, wie schön es wäre, mit einem hübschen Mädchen in einem Lokal wie diesem zu sitzen. Er ging immer mit Mädchen aus, die man wahrhaftig nicht anziehend nennen konnte: mit häßlichen Mädchen, mit unansehnlichen, mit fetten, mit pickeligen, mit dümmlichen Mädchen. Es war leicht, eine Bekanntschaft mit ihnen anzuknüpfen, und wenn sie erst einmal »angebissen« hatten, waren sie nur zu bereit, ihn für das zu nehmen, was er zu sein vortäuschte, und zögerten, ihm peinliche Fragen zu stellen, aus Angst, sie könnten ihn verlieren. Um in reiche Häuser zu kommen, war diese Methode unübertrefflich. Der Haken war nur, daß er seine ganze Zeit mit Mädchen verbrachte, die ihm nicht gefielen. Vielleicht eines Tages …
    Rebecca war heute abend besonders mürrisch und unzufrieden. Vielleicht fragte sie sich, weshalb Harry – obwohl er sie bereits seit drei Wochen regelmäßig ausführte – nicht wenigstens versucht hatte, »zu weit zu gehen«. Aber er brachte es einfach nicht fertig, seine vorgetäuschten Gefühle in die Tat umzusetzen. Er konnte Rebecca mit seinem Charme betören, konnte vortäuschen, romantisch zu sein, sie zum Lachen bringen und dazu, daß sie sich in ihn verliebte;
    aber sie begehren, nein, das war unmöglich. Bei einer schauderhaften Gelegenheit war er mit einem dünnen, deprimierten Mädchen, das entschlossen war, ihm seine Unschuld zu opfern, auf einem Heuboden gelandet, und er hatte sich gezwungen, ihren Wunsch

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