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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Kaution verweigert. Ansonsten stand es den Richtern frei, sie zu gewähren oder nicht. Normalerweise richteten sie sich nach der Empfehlung des zuständigen Ermittlungsbeamten, aber nicht immer. Manchmal ließen sie sich von einem schlauen Anwalt oder einem Beklagten mit einer auf die Tränendrüse drückenden Geschichte über ein krankes Kind überreden. Dann und wann, wenn der Ermittler zu arrogant war, gestatteten sie Freilassung auf Kaution, nur um ihm zu beweisen, daß er ihnen nichts vorzuschreiben hatte. Seine Kaution würde vermutlich auf fünfundzwanzig oder fünfzig Pfund festgesetzt werden. Das war kein Problem; er hatte genug Geld. Ein Anruf war ihm erlaubt worden, er hatte Bernie angerufen, den Zeitschriftenhändler an der Ecke der Straße, wo seine Mutter wohnte, und ihn gebeten, Mutter von einem seiner Jungs ans Telefon holen zu lassen. Als sie endlich dran war, sagte er ihr, wo sie sein Geld finden würde.
    »Sie lassen mich bestimmt auf Kaution raus, Ma«, meinte er großspurig.
    »Ich weiß, mein Sohn«, erwiderte seine Mutter. »Du hast immer Glück gehabt.«
    Aber wenn nicht…
    Ich hab‘ mich schon aus so mancher Verlegenheit rausgeredet, dachte er zuversichtlich.
    Aber nicht aus einer so schlimmen.
    Ein Wärter brüllte: »Marks!«
    Harry stand auf. Er hatte nicht geplant, was er sagen würde. Er redete am liebsten aus dem Stegreif. Aber diesmal wünschte er sich, er hätte etwas vorbereitet. Bringen wir es hinter uns, dachte er düster. Er knöpfte seine Jacke zu, rückte die Fliege zurecht und strich das weiße
    Einstecktuch in seiner Brusttasche glatt. Wenn ich mich nur hätte rasieren dürfen, dachte er, während er sein Kinn rieb. Im letzten Moment fiel ihm etwas ein, worauf er eine Geschichte aufbauen konnte. Er nahm die Manschettenknöpfe aus den Ärmelaufschlägen und steckte sie in die Hosentasche.
    Die Tür der Zelle schwang auf, und er trat hinaus.
    Man führte ihn eine Steintreppe hinauf, und er kam direkt an der Anklagebank mitten im Gerichtssaal hinaus. Vor ihm befanden sich die leeren Sitze der Anwälte, der besetzte Platz des Gerichtsschreibers, der ein qualifizierter Anwalt war, und dahinter der Richtertisch mit drei Laienrichtern.
    Harry sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Lieber Gott, ich hoffe, die drei Kerle lassen mich gehen!
    Auf der Pressebank an der Seite saß ein junger Reporter mit einem Stenoblock. Harry drehte sich um und schaute zu den Zuhörerbänken. Er sah Ma in ihrem besten Mantel und einem neuen Hut. Sie tippte vielsagend auf ihre Tasche. Harry schloß daraus, daß sie das Geld für seine Kaution mitgebracht hatte. Zu seinem Entsetzen bemerkte er jedoch, daß sie die Brosche trug, die er der Gräfin von Surrey entwendet hatte.
    Er schaute nun nach vom und klammerte sich an das Geländer, um die Hände vom Zittern abzuhalten. Der Vertreter der Anklage, ein kahlköpfiger Polizeiinspektor mit Knollennase, sagte: »Nummer drei auf Ihrer Liste, Euer Gnaden: Diebstahl von zwanzig Pfund in Scheinen und einem Paar goldener Manschettenknöpfe im Wert von fünfzehn Guineen, Eigentum von Sir Simon Monkford, und die Erlangung eines finanziellen Vorteils durch Betrug im Restaurant Saint Raphael in Piccadilly. Die Kriminalpolizei beantragt Haftanordnung, da sie in weiteren Vergehen ermittelt, in denen es um größere Summen geht.«
    Harry studierte die Richter aufmerksam. An einer Seite saß ein Hagestolztyp mit weißen Koteletten und steifem Kragen, an der anderen ein ehemaliger Offizier, was an seiner Regimentskrawatte erkennbar war. Beide blickten hochmütig auf ihn herab; er schätzte, daß sie jeden, der vor ihnen erscheinen mußte, von vornherein für einen Schurken hielten. Er hatte nicht viel Hoffnung. Doch dann sagte er sich, daß dumme Vorurteile sich durchaus rasch in ebenso dumme Leichtgläubigkeit verwandeln ließen. Es war ganz gut, wenn sie nicht so klug waren, da konnte er ihnen besser etwas vormachen. Der Vorsitzende in der Mitte war der einzige, der wirklich zählte. Er war mittleren Alters, hatte einen grauen Schnurrbart und trug einen grauen Anzug; seine Miene deutete an, daß er bereits mehr Lügengeschichten gehört hatte, als ihm lieb war. Auf ihn muß ich aufpassen, dachte Harry.
    Der Vorsitzende sagte jetzt zu ihm: »Ersuchen Sie, auf Kaution entlassen zu werden?«
    Harry tat verwirrt. »Oh! Meine Güte! Ich denke schon. Ja – ja, natürlich.«
    Alle drei Richter horchten auf, als sie seinen Oberklassenakzent hörten. Harry genoß diese Wirkung. Er

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