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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Monkford die Manschettenknöpfe als seine identifizieren.
    Aber es war noch schlimmer gekommen. Ein Inspektor der Sonderkommission hatte ihn vernommen. Der Mann hatte einen Kammgarnanzug mit einfachem weißem Hemd und schwarzer Krawatte getragen, eine Weste ohne Uhrkette und auf Hochglanz polierte, aber keineswegs neue Straßenschuhe – der für Kriminalbeamte typische Aufzug. Und er war ein erfahrener Kriminalist mit scharfem, wachsamem Verstand. Er hatte gesagt: »Während der letzten zwei, drei Jahre wurde uns des öfteren aus reichen Häusern gemeldet, daß Schmuckstücke verlorengingen. Nicht gestohlen, natürlich. Sie waren nur verschwunden. Armbänder, Ohrringe, Anhänger, Manschettenknöpfe… Die Besitzer betonten stets, daß die vermißten Sachen nicht gestohlen worden sein konnten, da die einzigen, die Gelegenheit gehabt hätten, sie an sich zu nehmen, ihre Gäste gewesen waren; und daß sie es nur meldeten, damit man sie benachrichtige, falls die verschwundenen Schmuckstücke irgendwo gefunden würden.« Harry hatte nur stumm zugehört und sich nichts anmerken lassen, obwohl ihm regelrecht übel war. Er war so überzeugt gewesen, daß seine »Karriere« bisher völlig unbemerkt geblieben war. Jetzt war er entsetzt, als er das Gegenteil erfuhr: Sie waren ihm bereits geraume Zeit auf der Spur!
    Der Kripobeamte öffnete einen dicken Ordner und zählte auf: »Der Graf von Dorset eine georgianische Silberbonbonniere und eine Schnupftabakdose, Lackarbeit, ebenfalls georgianisch. Mrs. Harry Jaspers ein Perlenarmband mit Rubinverschluß von Tiffany. Die Komtesse einen Art-deco-Brillantanhänger an einem Silberkettchen. Dieser Mann hat guten Geschmack.« Der Inspektor blickte unmißverständlich auf Harrys Brillantmanschettenknöpfe.
    Harry wurde klar, daß die Akte Einzelheiten von Dutzenden seiner Diebstähle enthalten mußte. Ihm wurde auch klar, daß man ihm zumindest einige davon würde nachweisen können. Dieser schlaue Beamte hatte alle grundlegenden Fakten zusammengetragen, er könnte mühelos Zeugen zusammentrommeln, die bestätigen würden, daß Harry sich zur Zeit des Abhandenkommens der Stücke im Haus ihrer Besitzer aufgehalten hatte. Früher oder später würden sie seine und die Wohnung seiner Mutter durchsuchen. Den Großteil des Schmuckes hatte er über Hehler verkauft, aber ein paar Stücke doch behalten. Die Manschettenknöpfe, die dem Inspektor aufgefallen waren, hatte er einem schlafenden Betrunkenen bei einem Ball am Grosvenor Square abgenommen, und seiner Mutter hatte er eine Brosche geschenkt, die er bei einem Hochzeitsempfang in einem Garten in Surrey einer Gräfin geschickt vom Busen gepflückt hatte. Und was sollte er sagen, wenn man ihn fragte, wovon er lebte?
    Er mußte mit einer langen Haftstrafe rechnen, und nach seiner Entlassung würde er zum Wehrdienst einberufen werden, was fast dasselbe war. Bei diesem Gedanken wurde ihm eiskalt.
    Er weigerte sich hartnäckig, auch nur einen Ton zu sagen, sogar als der Inspektor ihn eigenhändig an den Revers seiner Smokingjacke packte und gegen die Wand stieß. Aber sein Schweigen würde ihn nicht retten. Die Zeit arbeitete für das Gesetz.
    Harry hatte nur eine Chance. Er mußte die Richter dazu bringen, ihn auf Kaution freizulassen, und dann verschwinden. Plötzlich sehnte er sich nach der Freiheit, als säße er bereits seit Jahren in einer Zelle.
    Zu verschwinden würde nicht leicht sein, aber die Alternative ließ ihn schaudern.
    Während er die Reichen bestahl, hatte er sich an ihren Lebensstil gewöhnt. Er stand spät auf, trank Kaffee aus kostbarem Porzellan, trug elegante Kleidung und speiste in teuren Restaurants. Hin und wieder kehrte er auch ganz gern in seine ehemaligen Kreise zurück, trank mit alten Kumpeln in Pubs oder führte seine Mutter ins Odeon aus. Aber der Gedanke ans Gefängnis war unerträglich: die trostlose Kleidung, das gräßliche Essen, keinerlei Privatsphäre und, was am schlimmsten war, die drückende Langeweile einer absolut Sinnlosen Existenz.
    Er schüttelte sich vor Ekel und konzentrierte sich nun auf das Problem, gegen Kaution freigelassen zu werden.
    Die Polizei würde natürlich gegen Kaution sein, aber die Entscheidung trafen die Richter. Harry hatte bisher noch nie vor Gericht erscheinen müssen, doch auf den Straßen seines alten Viertels kannten die Leute sich mit Gerichtsverfahren ebenso aus wie damit, wer ein Recht auf eine Sozialwohnung hatte und wie man Schornsteine fegte. Nur in Mordfällen wurde

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