Nacht über den Wassern
Gesundheit willen in Südfrankreich lebte, und über den bevorstehenden Beginn seiner Offizierslaufbahn in der Royal Air Force.
Unbestimmte Äußerungen waren in der oberen Gesellschaft gang und gäbe, wie er festgestellt hatte. Junge Männer, die nicht zugeben wollten, daß sie arm wie Kirchenmäuse waren oder Eltern hatten, die hoffnungslose Alkoholiker waren oder aus Familien kamen, die durch einen Skandal Schande auf sich geladen hatten, flüchteten sich in charmante Lügen. Niemand machte sich die Mühe, der Wahrheit nachzugehen, bis ein junger Mann nicht wirklich ernste Absichten gegenüber einem Mädchen aus vornehmer Familie zeigte.
Auf diese unverbindliche Weise war Harry drei Wochen lang mit Rebecca ausgegangen. Sie hatte dafür gesorgt, daß er zu einer Wochenendparty in Kent eingeladen wurde, wo er Kricket gespielt und Geld von den Gastgebern gestohlen hatte, denen es zu peinlich war, die Polizei einzuschalten, aus Angst, sie könnten ihre Gäste kränken. Rebecca hatte ihn auch auf mehrere Bälle mitgenommen, wo er in Taschen gelangt und Geldbörsen geleert hatte. Außerdem hatte er, wenn er sie abholte, aus dem Haus ihrer Eltern kleinere Geldsummen und Silberbesteck eingesteckt, sowie drei viktorianische Broschen, die ihre Mutter noch gar nicht vermißte.
Er fand das beileibe nicht unmoralisch. Die Leute, die er bestahl, hatten ihre Reichtümer nicht verdient. Die meisten hatten in ihrem ganzen Leben keinen Finger krumm gemacht. Und die wenigen, die irgendeine Art von Stellung haben mußten, nutzten ihre Beziehungen, die sie in ihrer Privatschule geknüpft hatten, um fette Pfründe zu bekommen: Sie waren Diplomaten, Präsidenten und Vorsitzende von großen Firmen, Richter oder Parlamentsmitglieder. Sie zu bestehlen war eher ein Dienst an der Öffentlichkeit als ein Verbrechen.
Er machte das inzwischen schon zwei Jahre und wußte sehr wohl, daß er es nicht auf die Dauer fortsetzen konnte. Die Welt der feinen englischen Gesellschaft war groß, aber begrenzt, und irgendwann mußte ihm einmal jemand auf die Schliche kommen. Der Krieg hatte genau zu dem Zeitpunkt begonnen, als er bereit war, sich nach einer anderen Lebensweise umzusehen.
Er hatte jedoch nicht vor, als einfacher Soldat zur Armee zu gehen. Schlechtes Essen, kratzige Kleidung, sich herumkommandieren zu lassen und militärische Zucht waren nichts für ihn. Außerdem stand ihm die olivfarbene Uniform absolut nicht. Air-Force-Blau dagegen paßte zu seinen Augen, und er konnte sich durchaus als Pilot vorstellen. Also würde er Offizier bei der Royal Air Force werden. Er wußte noch nicht wie, aber es würde ihm gelingen. In solchen Dingen hatte er Glück.
Er beschloß, Rebecca inzwischen zu benutzen, ihm Einlaß zu einem vornehmen Haus zu verschaffen, ehe er sie fallenließ.
Sie begannen den Abend am Belgrave Square bei einem Empfang im Haus von Sir Simon Monkford, einem reichen Verleger.
Harry plauderte eine Zeitlang mit der ehrenwerten Lydia Moss, der dicken Tochter eines schottischen Grafen. So plump und einsam, wie sie war, gehörte sie genau zu der Art von Mädchen, die besonders empfänglich für seinen Charme waren, und so bezauberte er sie zwanzig Minuten lang mehr oder weniger aus Gewohnheit. Dann unterhielt er sich eine Weile mit Rebecca, um sie nicht zu verärgern. Danach hielt er den Augenblick für gekommen, um auf Fischzug zu gehen.
Er entschuldigte sich und verließ den Saal. Die Party fand in dem riesigen Salon im ersten Stock statt. Als er sich die Treppe weiter hinaufstahl, spürte er den erregenden Adrenalinstoß, der ihn immer durchzuckte, wenn er einen Job anging. Das Bewußtsein, daß er seine Gastgeber bestehlen würde und die Gefahr einging, bei der Tat ertappt und als Betrüger entlarvt zu werden, erfüllte ihn gleichermaßen mit Angst und Erregung.
Er erreichte das zweite Stockwerk und folgte dem Korridor zur Vorderseite des Hauses. Er nahm an, daß die Tür, die der Front am nächsten war, zu den Schlafzimmern der Gastgeber führte. Er öffnete sie und sah ein geräumiges Zimmer mit geblümten Vorhängen und einer rosa Tagesdecke über dem Bett. Er wollte gerade hineingehen, als eine Stimme herausfordernd rief: »Ich muß schon sagen!«
Harry drehte sich um, seine Nerven waren aufs äußerste angespannt. Er sah einen Herrn seines Alters auf den Gang treten und ihn forschend mustern.
Wie immer, wenn er sie brauchte, kamen sogleich die richtigen Worte über Harrys Lippen. »Ah, ist sie nicht da drinnen?«
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