Nacht über den Wassern
zu erfüllen, aber sein Körper hatte sich geweigert mitzumachen. Er wand sich immer noch vor Verlegenheit, wenn er nur daran dachte.
Seine sexuelle Erfahrung hatte er hauptsächlich bei Mädchen seiner eigenen Schicht gesammelt, und keine dieser Beziehungen war von Dauer gewesen. Er hatte nur eine wirklich befriedigende Affäre gehabt. Als er achtzehn war, hatte sich eine um Jahre ältere Dame in der Bond Street schamlos an ihn herangemacht. Sie war die Gattin eines vielbeschäftigten Anwalts, die sich von ihrem Mann vernachlässigt fühlte. Ihr Verhältnis hatte zwei Jahre gedauert, und er hatte viel von ihr gelernt – alles über die Liebe, wobei sie ihm eine begeisterte Lehrmeisterin gewesen war; gute Manieren, wie sie in der Oberschicht üblich waren – das hatte er ihr allerdings heimlich abgesehen; und Poesie, sie hatten Gedichte gelesen und im Bett darüber diskutiert. Harry hatte sie sehr gemocht. Sie hatte das Verhältnis abrupt abgebrochen, als ihr Gatte herausfand, daß sie einen Liebhaber hatte (wer es war, erfuhr er nie). Inzwischen war Harry dem Ehepaar mehrmals begegnet, und die Frau hatte immer durch ihn hindurchgeblickt, als wäre er überhaupt nicht da. Harry fand das grausam. Sie hatte ihm viel bedeutet und er ihr offenbar auch etwas. Hatte sie einen so starken Willen, oder war sie ganz einfach herzlos? Das würde er wahrscheinlich nie erfahren.
Der Sekt und das hervorragende Abendessen hoben weder Harrys noch Rebeccas Stimmung. Unruhe erfüllte ihn. Er hatte sowieso vorgehabt, sie nach dem heutigen Abend sanft fallenzulassen, aber plötzlich wurde ihm allein schon der Gedanke unerträglich, den Rest dieses Abends noch mit ihr zu verbringen. Er verfluchte sich, daß er sein Geld für das Dinner mit ihr vergeudete. Er blickte auf ihr verdrossenes Gesicht, das so ganz ohne Make-up und unter dem lächerlichen kleinen Hut mit Feder fast abstoßend war, und fing an, sie zu hassen.
Als sie das Dessert beendet hatten, bestellte er Kaffee und ging zur
Herrentoilette. Die Garderobe befand sich gleich daneben und war von ihrem Tisch aus nicht zu sehen. Einem unwiderstehlichen Impuls folgend, ließ Harry sich seinen Hut aushändigen, gab der Garderobenfrau ein Trinkgeld und verließ das Restaurant.
Es war eine laue Nacht. Durch die Verdunkelung war es finster, aber Harry kannte sich im West End gut aus, und immer wieder fuhren Autos mit Parklichtern vorbei. Er fühlte sich, als hätte er unerwartet schulfrei bekommen. Er war Rebecca los, hatte sieben oder acht Pfund gespart und die Nacht für sich – alles mit einem einzigen begnadeten Streich.
Theater, Kinos und Tanzlokale waren von der Regierung geschlossen worden, »bis das Ausmaß deutscher Angriffe auf Großbritannien abgesehen werden kann«, wie die Erklärung lautete. Aber Nachtclubs wurden vielfach am Rand der Legalität betrieben, und es hatten auch jetzt noch diverse Lokalitäten geöffnet, man mußte nur wissen, wo. Schon bald machte Harry es sich an einem Tisch in einer Kellerbar in Soho bequem, trank Whisky, genoß die erstklassige amerikanische Jazzband und spielte mit dem Gedanken, sich an eine der hübschen Zigarettenverkäuferinnen heranzumachen.
Er überlegte immer noch, als Rebeccas Bruder hereinstürzte.
Am nächsten Morgen saß er in einer Kellerzelle unter dem Gerichtssaal. Er war niedergeschlagen und zerknirscht, während er darauf wartete, vor den Richter geführt zu werden. Er befand sich in großen Schwierigkeiten.
Das Restaurant einfach so zu verlassen war idiotisch gewesen. Rebecca gehörte nicht zu den Mädchen, die ihren Stolz schluckten und die Rechnung ohne Aufhebens bezahlten. Sie hatte ein riesiges Theater gemacht, woraufhin der Geschäftsführer die Polizei rief, und dann war ihre Familie mit hineingezogen worden… Das war genau das Aufsehen, das Harry normalerweise zu vermeiden suchte. Trotzdem hätte er davonkommen können, wäre ihm nicht durch unglaubliches Pech zwei Stunden später Rebeccas Bruder über den Weg gelaufen.
Er befand sich in einer großen Zelle mit fünfzehn oder zwanzig anderen Festgenommenen, die alle noch am Vormittag dem Gericht vorgeführt werden sollten. Es gab hier keine Fenster, und der Zigarettenqualm war zum Schneiden dick. Gegen Harry würde heute nicht verhandelt werden, ihn erwartete nur eine vorläufige Anhörung.
Natürlich würde er schließlich verurteilt werden. Die Beweise gegen ihn waren unwiderlegbar. Der Oberkellner würde Rebeccas Aussage bestätigen und Sir Simon
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