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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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war stolz auf seine Fähigkeit, andere in ihrem Standesdünkel zu verblüffen. Die Reaktion des Richterkollegiums gab ihm Mut. Ich kann ihnen was vormachen, jubelte er innerlich, ich wette, daß ich es kann!
    »Was können Sie zu Ihrer Verteidigung vorbringen?« fragte der Vorsitzende.
    Harry lauschte aufmerksam dem Akzent des Mannes, um sich ein Bild seiner Herkunft zu machen. Er schloß, daß er aus der gebildeten Mittelschicht kam, ein Apotheker vielleicht oder Bankdirektor. Er war bestimmt klug, aber wahrscheinlich auch gewohnt, sich nach den oberen Schichten zu richten.
    Harry setzte eine verlegene Miene auf und bediente sich des Tones eines Schuljungen, der vor dem Rektor steht. »Ich fürchte, das Ganze hat sich zu einem schrecklichen Durcheinander entwickelt, Sir«, begann er. Das Interesse der Richter wuchs noch ein wenig. Sie beugten sich aufmerksam vor. Das würde kein gewöhnlicher Fall werden, das konnten sie bereits sehen, und sie waren dankbar für die Abwechslung von den üblichen ermüdenden Fällen. Harry fuhr fort: »Ehrlich gesagt, einige der Kameraden tranken gestern im Carlton Club zuviel Portwein, und dadurch kam es dazu.« Er hielt inne, als wäre das Erklärung genug, und blickte das Kollegium erwartungsvoll an.
    Der Richter mit dem Regimentsbinder wiederholte: »Der Carlton Club!« Seine Miene besagte, daß Mitglieder dieser hehren Institution nicht oft hier vor Gericht erschienen.
    Harry fragte sich, ob er etwa zu weit gegangen war. Vielleicht würden sie bezweifeln, daß er ein Mitglied war. Er setzte hastig fort: »Es ist mir furchtbar peinlich, aber ich werde alle aufsuchen und mich auf der Stelle entschuldigen und die Sache ohne Zögern klären…« Er täuschte vor, sich plötzlich zu erinnern, daß er im Abendanzug war. »Das heißt, sobald ich mich umgekleidet habe.«
    Der alte Hagestolz blickte ihn an: »Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht beabsichtigten, die zwanzig Pfund und die Manschettenknöpfe zu nehmen?«
    Das klang ungläubig, trotzdem war es ein gutes Zeichen, daß sie Fragen stellten. Es bedeutete, daß sie seine Geschichte nicht einfach abtaten. Sie würden sich nicht die Mühe machen, ihn nach Einzelheiten zu fragen, wenn sie gar nichts davon glaubten. Ihm wurde leichter ums Herz, vielleicht kam er tatsächlich frei!
    Er sagte: »In der Tat habe ich mir die Manschettenknöpfe geliehen – ich hatte meine völlig vergessen.« Er streckte die Arme aus, um die offenen Hemdaufschläge zu zeigen, die aus den Ärmeln der Smokingjacke herausschauten. Seine Manschettenknöpfe steckten in der Hosentasche.
    Der Hagestolz fragte: »Und was ist mit den zwanzig Pfund?«
    Das war eine schwierigere Frage, wie Harry besorgt bewußt wurde. Ihm fiel keine glaubhafte Ausrede ein. Man konnte zwar seine Manschettenknöpfe vergessen und sich ohne viel Umstände irgend jemandes leihen, aber sich Geld zu borgen, ohne den Besitzer darum zu bitten, war stehlen. Er war der Panik nahe, als ihm ein rettender Einfall kam. »Ich glaube, es könnte sein, daß Sir Simon sich bei dem Betrag irrte, den er ursprünglich in seiner Brieftasche hatte.« Harry senkte die Stimme, als wolle er den Richtern etwas sagen, was die einfachen Leute auf den Zuhörerbänken nicht verstehen sollten. »Er ist schrecklich reich, Sir.«
    »Er wurde nicht dadurch reich, daß er vergaß, wieviel Geld er hatte«, entgegnete der Vorsitzende. Gedämpftes Lachen erklang im Gerichtssaal. Humor war eigentlich ein ermutigendes Zeichen, aber der Vorsitzende verzog keine Miene. Er hatte es nicht als witzige Bemerkung gedacht. Das ist ein Bankdirektor, dachte Harry, für ihn ist Geld nichts, worüber man Späße macht. Der Vorsitzende fuhr fort: »Und warum haben Sie Ihre Rechnung im Restaurant nicht bezahlt?«
    »Ich gestehe, das tut mir jetzt entsetzlich leid. Ich hatte eine äußerst unangenehme Auseinandersetzung mit meiner – Begleiterin.« Harry nannte ostentativ keinen Namen: Unter jungen Männern, die von vornehmen Privatschulen kamen, galt es als unfein, den Namen einer Bekannten auszuplaudern, und das wußten die Richter zweifelsohne. »Ich fürchte, ich bin einfach davongestürmt, an die Rechnung habe ich dabei überhaupt nicht gedacht.«
    Der Vorsitzende blickte über den Brillenrand und fixierte Harry mit einem durchdringenden Blick. Harry hatte das Gefühl, daß er irgendetwas falsch gemacht hatte. Ihm wurde flau. Was hatte er gesagt? Da wurde ihm bewußt, daß er eine gleichgültige Einstellung gegenüber Schulden

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