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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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gezeigt hatte. Das war in den oberen Schichten völlig normal, doch ein Bankdirektor sah es zweifellos als Todsünde. Panik ergriff ihn, und er befürchtete, daß er wegen eines kleinen Einschätzungsfehlers alles verlieren würde. Rasch sprudelte er heraus: »Furchtbar unverantwortlich von mir, Sir, selbstverständlich werde ich die Rechnung heute mittag sofort begleichen. Das heißt, wenn Sie mir die Möglichkeit dazu geben.«
    Er konnte nicht erkennen, ob der Vorsitzende besänftigt war oder nicht. »Sie wollen uns also weismachen, daß die Anklage gegen Sie höchstwahrscheinlich zurückgezogen wird, sobald Sie die Sachlage erklärt haben?«
    Harry fand, daß er aufpassen mußte, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß er auf alles eine schlagfertige Antwort hatte. Er senkte den Kopf und blickte zerknirscht drein. »Ich glaube, es würde mir verflixt recht geschehen, wenn die Leute sich weigerten, die Anklage fallenzulassen««
    »Das würde es vermutlich«, bestätigte der Vorsitzende streng.
    Aufgeblasener alter Furz, dachte Harry, aber er wußte, so demütigend das auch sein mochte, es doch gut für seinen Fall war. Je mehr sie ihm den Kopf zurechtrückten, desto unwahrscheinlicher wurde es, daß sie ihn ins Gefängnis zurückschickten.
    »Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?« fragte der Vorsitzende.
    Leise antwortete Harry: »Nur, daß ich mich entsetzlich schäme.«
    »Hm«, brummte der Vorsitzende skeptisch, aber der ehemalige Offizier nickte befriedigt.
    Die drei Laienrichter besprachen sich eine Zeitlang gedämpft. Harry hielt unwillkürlich den Atem an. Es war eine unerträgliche Vorstellung, daß seine ganze Zukunft von diesen alten Trotteln abhing. Er wünschte, sie würden sich beeilen, zu einer Entscheidung zu kommen; doch als sie alle nickten, wünschte er sich wiederum, der schreckliche Augenblick würde sich verzögern.
    Schließlich blickte der Vorsitzende auf. »Ich hoffe, eine Nacht in der Zelle war eine heilsame Lektion für Sie«, sagte er.
    O Gott, ich glaube, er läßt mich laufen! dachte Harry. Er schluckte und sagte: »Das kann man wohl sagen, Sir. Ich möchte nie wieder eine von innen sehen!«
    »Dann benehmen Sie sich auch entsprechend!«
    Wieder setzte eine kurze Pause ein, dann wandte der Vorsitzende sich von Harry ab und dem Gericht zu. »Ich sage nicht, daß wir alles glauben, was wir gehört haben, aber wir sind nicht der Meinung, daß in diesem Fall Untersuchungshaft erforderlich ist.«
    Eine Welle ungeheurer Erleichterung überwältigte Harry, und seine Knie wurden weich.
    Der Vorsitzende sagte: »Für sieben Tage auf Kaution entlassen. Hinterlegen Sie die Summe von fünfzig Pfund.«
    Harry war frei.
    Er sah die Straßen mit neuen Augen, als wäre er ein Jahr im Gefängnis gewesen, nicht ein paar Stunden. London bereitete sich auf den Krieg vor. Dutzende von silbernen Fesselballonen schwebten hoch am Himmel, um deutsche Flugzeuge zu behindern. Um Läden und öffentliche Gebäude waren Sandsäcke gestapelt, die sie vor Bomben schützen sollten. In den Parks gab es neue Luftschutzbunker, und alle Passanten trugen eine Gasmaske bei sich. Alle hielten es für möglich, daß sie jeden Moment ausradiert würden; das hatte dazu geführt, daß sie ihre Reserviertheit ablegten und sich ungezwungen mit Fremden unterhielten.
    Harry erinnerte sich nicht an den Weltkrieg- bei seinem Ende war er zwei Jahre alt gewesen. Als kleiner Junge hatte er geglaubt, »Krieg« wäre ein Ort, denn alle sagten zu ihm, »dein Vater ist im Krieg gefallen«, auf dieselbe Weise, wie sie sagten, »geh und spiel im Park; fall nicht ins Wasser; Ma geht zum Pub.« Später, als er alt genug war zu verstehen, was er verloren hatte, war jede Erwähnung des Weltkriegs schmerzlich für ihn. Mit Marjorie, der Frau des Anwalts, die zwei Jahre seine Geliebte gewesen war, hatte er die Gedichte über den Krieg gelesen, und eine Zeitlang hatte er sich Pazifist genannt, bis er die Faschisten durch London hatte marschieren sehen und die besorgten Gesichter alter Juden. Da hatte er gedacht, daß manche Kriege es wert waren, geführt zu werden. In den letzten Jahren hatte es ihn verärgert, daß die britische Regierung beide Augen zudrückte, wenn es um die Schändlichkeiten in Deutschland ging, nur weil sie hoffte, Hitler würde die Sowjetunion vernichten. Doch jetzt, da der Krieg tatsächlich ausgebrochen war, dachte er nur an all die kleinen Jungen, die wie er leben würden – mit einem Loch in ihrem Leben, wo ein Vater sein

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