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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sollte.
    Aber die Bomber waren noch nicht gekommen, und es war wieder ein sonniger Tag.
    Harry beschloß, nicht in seine Wohnung zu gehen. Die Kripo würde wütend sein, weil er auf Kaution frei war, und ihn bei der erstbesten Gelegenheit wieder verhaften wollen. Er mußte sich eine Zeitlang zurückhalten. Ins Gefängnis wollte er wirklich nicht zurück. Aber wie lange würde er ständig über die Schulter spähen müssen? Konnte er der Polizei auf Dauer entgehen? Und wenn nicht, was sollte er tun?
    Er stieg mit seiner Mutter in den Bus. Er würde sich einstweilen bei ihr in Battersea einquartieren.
    Ma wirkte traurig. Sie wußte, wovon er lebte, obwohl sie nie darüber gesprochen hatten. Jetzt sagte sie nachdenklich: »Ich hab‘ dir nie ‚was geben können.«
    »Du hast mir alles gegeben, Ma!« widersprach er.
    »Nein, hab‘ ich nicht, sonst tät‘st du ja nicht stehlen müssen.« Darauf hatte er keine Antwort.
    Als sie aus dem Bus stiegen, trat er in die Zeitschriftenhandlung an der Ecke. Er dankte Bernie, daß er Ma ans Telefon geholt hatte, und kaufte den Daily Express. Die Schlagzeilen sprangen ihm ins Auge: POLEN BOMBARDIEREN BERLIN. Als er wieder auf die Straße trat, sah er einen Bobby auf dem Fahrrad näher kommen, und einen Augenblick erfüllte ihn idiotische Panik. Fast wäre er davongelaufen, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig beherrschen, denn es fiel ihm ein, daß zur Verhaftung immer zwei Mann geschickt wurden.
    So kann ich nicht leben! dachte er.
    Sie gingen zu dem Haus, in dem Ma wohnte, und stiegen die Steintreppe zum vierten Stock hinauf. Ma setzte den Kessel auf und sagte: »Ich hab‘ deinen blauen Anzug aufgebügelt – du kannst dich umziehen.« Sie kümmerte sich immer noch um seine Sachen, nähte Knöpfe an und stopfte seine Seidensocken. Harry ging ins Schlafzimmer, zog seine Mappe unter dem Bett hervor und zählte sein Geld.
    Nach zwei Jahren des Stehlens besaß er zweihundertsiebenundvierzig Pfund. Ich muß viermal soviel geklaut haben, dachte er. Ich frage mich, wofür ich den Rest ausgegeben habe?
    Er besaß auch einen amerikanischen Reisepaß.
    Er blätterte ihn nachdenklich durch. Er erinnerte sich, wie er ihn im Schreibtisch des Hauses eines Diplomaten in Kensington entdeckt hatte. Ihm war aufgefallen, daß der Name des Besitzers Harold war und der Mann auf dem Paßbild ihm ähnlich sah, deshalb hatte er ihn eingesteckt.
    Amerika, dachte er.
    Er brachte einen amerikanischen Akzent zustande. Und er wußte etwas, wovon die meisten Briten keine Ahnung hatten – daß es mehrere verschiedene amerikanische Dialekte gab, von denen einige vornehmer waren als andere. Man brauchte nur das Wort »Boston« zu nehmen. Leute aus Boston würden sagen: Bahston; Leute aus New
    York: Bawston. Je englischer man klang, desto vornehmer war man in Amerika. Und es gab Millionen reicher Amerikanerinnen, die nur darauf warteten, daß man ihnen den Hof machte.
    In seiner Heimat dagegen erwartete ihn das Gefängnis und die Armee.
    Er hatte einen Reisepaß und eine Tasche voll Geld, einen frischen Anzug, und er konnte sich ein paar Hemden und einen Koffer kaufen. Bis nach Southampton waren es hundertzwanzig Kilometer.
    Er könnte noch heute abreisen.
    Es war wie ein Traum.
    Seine Mutter riß ihn aus den Gedanken, als sie von der Küche rief: »Harry – magst du ein Speckbrot?«
    »Ja, bitte.«
    Er ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. Sie gab ihm eine Scheibe Brot, aber er biß nicht ab. »Fahren wir nach Amerika, Ma«, sagte er.
    »Ich? In Amerika? Das wär‘ so was!«
    »Ohne Spaß! Ich fahre.«
    Sie wurde ernst. »Das ist nichts für mich, mein Sohn. Zum Auswandern bin ich zu alt.«
    »Aber hier ist Krieg!«
    »Ich habe einen Krieg mitgemacht und einen Generalstreik und eine Wirtschaftskrise.« Sie schaute sich in der winzigen Küche um. »‘s ist nichts Besonderes, aber mein Zuhause!«
    Harry hatte nicht wirklich erwartet, daß sie zustimmen würde, doch nun, da sie es ausgesprochen hatte, fühlte er sich elend. Mutter war sein ein und alles.
    »Was willst du denn dort?« fragte sie.
    »Hast du Angst, daß ich stehle?«
    »‘s endet doch immer gleich, wenn man klaut. Ich hab‘ noch nie gehört, daß Langfinger nicht irgendwann mal erwischt wurden.«
    Harry ging nicht darauf ein. »Ich möchte zur Air Force und Fliegen lernen.«
    »Werden sie dich lassen?«
    »Da drüben ist es egal, auch wenn man von der Arbeiterklasse ist, solange man Köpfchen hat.«
    Da erhellte sich ihre

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