Nacht über den Wassern
alles zu symbolisieren, was sie in ihrem Leben vermißte. Aber wenn sie ihn wirklich wiedertraf, würde sie wahrscheinlich feststellen, daß er dümmlich war, irgendeine schleichende Krankheit hatte oder Körpergeruch – vielleicht sogar alles zusammen.
Sie stieg aus dem Zug und schritt die Straße mit den großen Vorortvillen entlang, wo sie wohnte. Als sie sich ihrem eigenen Haus näherte, sah sie plötzlich voller Aufregung, daß er die Straße entlang- schlenderte und auf sie zukam.
Sie errötete heftig, und ihr Herz hämmerte wild. Auch er war offensichtlich verwirrt. Er blieb stehen, doch sie schritt weiter, aber als sie an ihm vorbeikam, sagte sie: »Kommen Sie morgen vormittag in die Stadtbibliothek!«
Sie erwartete nicht, daß er antwortete, aber er verfügte – wie sie später feststellen würde – über Humor und Schlagfertigkeit, und er fragte sofort: »In welche Abteilung?«
Es war zwar eine große Bibliothek, aber nicht so groß, daß sich zwei Personen dort nicht schnell finden konnten. Sie sagte das erste, was ihr in den Sinn kam: »Biologie.« Und er lachte.
Sie betrat das Haus mit diesem Lachen im Ohr: Es war ein warmes, entspanntes Lachen, das Lachen eines Menschen, der das Leben liebte und mit sich zufrieden war.
Das Haus war leer. Mrs. Rollins, die die Hausarbeit machte, war bereits heimgegangen, und Mervyn war noch nicht da. Diana setzte sich in die moderne saubere Küche und hing altmodischen, nicht ganz so sauberen Gedanken über ihren humorvollen amerikanischen Dichter nach.
Am nächsten Vormittag fand sie ihn an einem Tisch unter einem Schild, auf dem gebeten wurde, leise zu sein. Als sie »Hallo« sagte, drückte er einen Finger auf die Lippen, deutete auf einen Stuhl und schrieb ihr einen Zettel.
Mir gefällt Ihr Hut, stand darauf.
Sie trug einen kleinen Hut, der wie ein umgedrehter Blumentopf mit breitem Rand aussah, und hatte ihn so verwegen schief aufgesetzt, daß er ihr linkes Auge fast verbarg, das war die neueste Mode, allerdings hatten wenige Damen in Manchester den Mut dazu.
Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Bleistift und kritzelte unter seine Worte: Er würde Ihnen nicht stehen.
Aber meine Geranien würden sich gut in ihm machen, schrieb er.
Sie kicherte, und er mahnte: »Psst!«
Ist er verrückt oder absichtlich komisch? dachte Diana.
Sie schrieb: Ich liebe Ihr kleines Gedicht.
Und er schrieb: Ich liebe Sie.
Wirklich verrückt, dachte sie, aber Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie schrieb: Ich kenne nicht einmal Ihren Namen!
Er reichte ihr seine Visitenkarte. Er hieß Mark Alder und lebte in Los Angeles.
Kalifornien!
Sie aßen früh zu Mittag in einem vegetarischen Restaurant, weil sie da sicher sein konnte, daß sie ihrem Mann nicht zufällig begegnen würde. Keine zehn Pferde hätten ihn in ein vegetarisches Restaurant bringen können. Dann, weil es Dienstag war, gab es ein Mittagskonzert in der Houldsworth Hall in Deansgate mit dem berühmten Halle Orchester der Stadt und seinem neuen Dirigenten Malcolm Sargent. Diana war stolz, daß ihre Stadt einem Besucher einen solchen kulturellen Leckerbissen bieten konnte.
An diesem Tag erfuhr sie, daß Mark Komödien für Radioshows schrieb. Sie hatte von den Leuten, für die er schrieb, noch nie gehört, aber er versicherte ihr, daß sie berühmt waren: Jack Benny, Fred Allen, Amos ‚n‘ Andy. Ihm gehörte auch ein eigener Sender. Er trug einen Kaschmirblazer und war auf längerem Urlaub hier, um seinem Stammbaum nachzugehen: Seine Familie stammte ursprünglich aus Liverpool, der wenige Kilometer westlich von Manchester liegenden Hafenstadt. Er war ein kleiner Mann, nicht viel größer als Diana, etwa in ihrem Alter, und er hatte haselnußbraune Augen und ein paar Sommersprossen.
Und er war der Sonnenschein in Person.
Er war intelligent, lustig und charmant. Er hatte gute Manieren, gepflegte Hände und trug geschmackvolle Kleidung. Er mochte Mozart, aber auch Louis Armstrong. Vor allem aber mochte er Diana.
Es ist eigenartig, dachte sie, wie wenige Männer Frauen tatsächlich mögen. Die Männer, die sie kannte, umschmeichelten sie, versuchten sie zu betatschen, machten ihr hinter Mervyns Rücken unmißverständliche Anträge, und manchmal, wenn sie stockbesoffen waren, erklärten sie ihr ihre Liebe. Aber daß sie sie wirklich mochten, nein, davon war nichts zu spüren. Ihre Unterhaltung war seichtes Geplänkel, sie hörten ihr nie richtig zu und wußten nichts über sie. Mark war ganz anders, wie
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