Nacht über den Wassern
beschlossen, sofort in die Staaten zurückzukehren; aber andere hatten natürlich dieselbe Absicht, und so war es ungeheuer schwierig, Passagen zu buchen. Schließlich hatte Nancy Tickets für ein Schiff bekommen, das von Liverpool abfuhr. Nach einer langen Fahrt von Paris mit Zug und Fähre waren sie gestern hier angekommen und sollten heute an Bord gehen.
Sie war bestürzt über Englands Kriegsvorbereitungen. Gestern nachmittag war ein Page in ihr Zimmer gekommen und hatte herunterziehbare, dichte schwarze Vorhänge über den Fenstern angebracht. Sämtliche Fenster mußten jeden Abend verdunkelt werden, damit die Stadt aus der Luft nicht gesehen werden konnte. Über die Fensterscheiben waren kreuz und quer breite Klebstreifen gezogen worden. Das sollte verhindern, daß Glassplitter flogen, wenn die
Stadt bombardiert wurde. Vor dem Hotel hatte man Sandsäcke aufgestapelt, und hinter dem Haus gab es einen Luftschutzbunker.
Nancy hatte entsetzliche Angst, daß die Vereinigten Staaten in den Krieg eintreten könnten und ihre Söhne, Liam und Hugh, eingezogen würden. Sie erinnerte sich, daß ihr Vater bei Hitlers Machtübernahme gesagt hatte, die Nazis würden Deutschland vor dem Kommunismus bewahren. Das war das letzte Mal, daß sie an Hitler gedacht hatte, sie war zu beschäftigt, sich um Europa Gedanken zu machen. Sie interessierte sich nicht für internationale Politik, das Kräftegleichgewicht oder den zunehmenden Faschismus: Derart Abstraktes erschien ihr unbedeutend gegenüber dem Leben ihrer Söhne. Die Polen, die Österreicher, die Juden und Slawen mußten schon für sich selbst sorgen; ihre Aufgabe war, für Liam und Hugh zu sorgen.
Nicht, daß sie ihrer Fürsorge jetzt noch bedurften. Nancy hatte schon früh geheiratet und ihre Kinder in den ersten Ehejahren bekommen, so waren die Jungs inzwischen erwachsen – Liam bereits in Houston verheiratet, und Hugh in seinem letzten Semester in Yale. Hugh vertiefte sich nicht so sehr in sein Studium, wie er es eigentlich hätte tun sollen; Nancy war beunruhigt, als sie erfuhr, daß er sich einen rasanten Sportwagen gekauft hatte, aber er war über das Alter hinaus, in dem er auf den Rat seiner Mutter gehört hätte. Da sie andererseits gar keine Möglichkeit hatte, die Einberufung zu verhindern, wenn es dazu kommen sollte, sah sie kaum einen Grund für eine überstürzte Rückkehr nach Hause.
Natürlich war ihr klar, daß der Krieg gut für das Geschäft war. In Amerika würde es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung kommen, und die Leute würden dadurch mehr Geld für Schuhe ausgeben können. Ob die Vereinigten Staaten sich nun am Krieg beteiligten oder nicht, die Streitkräfte würden in jedem Fall verstärkt werden, und das bedeutete eine Erhöhung ihrer Regierungsaufträge. Alles in allem würde ihr Umsatz sich in den nächsten zwei oder drei Jahren verdoppeln, wenn nicht verdreifachen – auch das sprach dafür, die Fabrik zu modernisieren.
Trotzdem waren diese Dinge so bedeutungslos, wenn man an die schreckliche Möglichkeit dachte, daß ihre Söhne vielleicht an die Front mußten.
Ein Hoteldiener holte Nancys Gepäck und unterbrach ihre düsteren Gedanken. Sie fragte ihn, ob die Koffer ihres Bruders bereits abgeholt worden seien. In seiner für sie fast unverständlichen Mundart erklärte er ihr, daß Mr. Black sein Gepäck gestern nacht zum Schiff hatte bringen lassen.
Sie ging zu Peters Zimmer, um zu sehen, ob er fertig war. Als sie klopfte, öffnete ein Stubenmädchen, das ihr mit dem gleichen gutturalen Akzent mitteilte, daß ihr Bruder schon gestern abgereist sei.
Das verwunderte, ja bestürzte Nancy. Sie hatten sich erst gestern abend hier in dem Hotel einquartiert. Nancy hatte beschlossen, ihr Abendessen auf dem Zimmer einzunehmen und früh zu Bett zu gehen, und Peter hatte gesagt, er würde das gleiche tun. Wenn er seine Absicht geändert hatte, wohin war er dann gegangen? Wo hatte er übernachtet? Und wo war er jetzt?
Sie ging hinunter zum Telefon im Foyer, aber sie wußte nicht so recht, wen sie anrufen sollte. Weder sie noch Peter hatten Bekannte in England. Liverpool lag Dublin jenseits der See gegenüber. Könnte es sein, daß Peter noch nach Irland gefahren war, um sich das Land anzusehen, aus dem die Blacks ursprünglich gekommen waren? Das hatten sie eigentlich vorgehabt. Aber Peter wußte schließlich, daß er in diesem Fall nicht rechtzeitig zur Abfahrt des Schiffes zurück sein würde.
In ihrer Ratlosigkeit beschloß sie, ihre
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