Nacht über den Wassern
Tante Tilly in Amerika anzurufen, und gab der Vermittlung die Nummer.
Amerika von Europa aus anzurufen war Nervensache. Es gab nicht genügend Leitungen, und manchmal mußte man eine Ewigkeit warten. Mit etwas Glück allerdings hatte man seinen Anschluß innerhalb von Minuten. Die Verbindung war gewöhnlich schlecht, und man mußte brüllen.
In Boston war es jetzt kurz vor sieben Uhr, aber Tante Tilly war bestimmt schon auf. Wie viele ältere Leute schlief sie wenig und wachte früh auf. Sie war sehr rege.
Die Leitungen waren momentan nicht belegt – wahrscheinlich, weil es noch zu früh war, Geschäftsleute in den Staaten um diese Zeit in ihren Büros anzutreffen –, so dauerte es lediglich fünf Minuten, bis Nancy den Hörer in der Zelle abnehmen konnte. Sie hörte das vertraute amerikanische Freizeichen und stellte sich Tante Tilly in ihrem seidenen Morgenrock und den Fellpantoffeln vor, wie sie über den auf Hochglanz polierten Boden ihrer Küche zu dem schwarzen Telefon in der Diele eilte.
»Hallo?«
»Tante Tilly, ich bin es, Nancy.«
»Meine Güte, Kind, es ist dir doch hoffentlich nichts passiert?« »Nein, es geht mir gut. Der Krieg ist zwar erklärt, aber zu einem Beschuß ist es zumindest in England noch nicht gekommen. Hast du von den Jungs gehört?«
»Beiden geht es gut. Von Liam habe ich eine Ansichtskarte aus Palm Beach bekommen, er schreibt, daß Jacqueline braun gebrannt sogar noch schöner ist. Hugh hat einen Ausflug mit mir in seinem neuen Auto gemacht, ich bin begeistert.«
»Fährt er sehr schnell?«
»Ich fand, daß er ziemlich vorsichtig ist. Er hat nicht einmal einen Cocktail getrunken, weil er sagt, Leute, die getrunken haben, sollten kein Automobil fahren.«
»Da bin ich aber erleichtert!«
»Alles Gute auch zum Geburtstag, Liebes! Das hätte ich fast vergessen. Was machst du in England?«
»Ich bin in Liverpool und fahre heute noch mit dem Schiff nach New York, nur Peter ist plötzlich verschwunden. Du hast nicht zufällig von ihm gehört, oder?«
»O doch, natürlich. Er hat eine Vorstandssitzung für übermorgen früh einberufen.«
Nancy war verwirrt. »Du meinst, Freitag morgen?«
»Ja, Liebes, Freitag ist übermorgen.« Tilly klang leicht pikiert, ihr Ton sagte: So alt bin ich auch wieder nicht, daß ich nicht wüßte, welcher Tag ist!
Nancys Verwirrung wuchs. Was hatte es für einen Sinn, eine Vorstandssitzung anzuberaumen, an der weder sie noch Peter teilnehmen konnte? Die einzigen anderen Vorstände waren Tilly und Danny Riley, und die würden nie allein eine Entscheidung treffen.
An der Sache war etwas faul.
»Was ist auf der Agenda, Tante Tilly?«
»Ich habe sie gerade überflogen. Warte, ich lese sie vor: Abstimmung über den Verkauf von Black‘s Boots AG an General Textiles AG zu den durch den Vorsitzenden ausgehandelten Bedingungen.«
»Großer Gott!« Der Schock war so groß, daß Nancys Knie ganz weich wurden. Mit zittriger Stimme sagte sie: »Würdest du mir das bitte noch einmal vorlesen, Tante Tilly?«
Tilly tat es.
Plötzlich fröstelte Nancy. Wie hatte Peter eine solche Sache vor ihr verbergen können? Wann hatte er dieses Geschäft ausgehandelt? Er mußte heimlich daran gearbeitet haben, seit sie ihm ihre Vorschläge unterbreitet hatte. Und während er vortäuschte, darüber nachzudenken, hatte er in Wirklichkeit hinter ihrem Rücken verhandelt. Sie hatte immer gewußt, daß Peter niemand war, auf den man bauen konnte, aber eine solche Gemeinheit hätte sie ihm nie zugetraut.
»Bist du noch da, Nancy?«
Nancy schluckte. »Ja. Aber sprachlos. Peter hat mir keinen Ton davon gesagt.«
»Wirklich? Das ist nicht gerade anständig von ihm.«
»Er will offenbar, daß sein Antrag angenommen wird, während ich weg bin – aber er wird doch auch nicht dabeisein… Wir fahren heute ab und werden erst in fünf Tagen zu Hause sein.« Und doch, dachte sie, Peter ist verschwunden…
»Gibt es denn jetzt nicht ein Flugzeug?«
»Der Clipper!« Nancy erinnerte sich: Es hatte alles darüber in den Zeitungen gestanden. Man konnte den Atlantik in einem Tag überqueren! Hatte Peter das vor?
»Richtig«, bestätigte Tilly. »Danny Riley sagte, daß Peter mit dem Clipper zurückkommt und rechtzeitig zur Vorstandssitzung hiersein wird.«
Es fiel Nancy schwer, mit der Unverfrorenheit fertig zu werden, mit der ihr Bruder sie belogen hatte. Er war den weiten Weg nach Liverpool mit ihr gereist, um sie glauben zu machen, daß er das Schiff mit ihr nähme. Und kaum,
Weitere Kostenlose Bücher