Nacht über den Wassern
Indem er nur seinen Vornamen nannte, gab er Harry zu verstehen, daß er nicht bei seinem Titel genannt werden wollte.
Harry setzte sich in Flugrichtung, von Margaret nur durch den schmalen Mittelgang getrennt. Er würde sich mit ihr unterhalten können, ohne daß die anderen sie verstehen konnten. Momentan war es im Flugzeug jedoch still wie in einer Kirche. Vermutlich waren alle noch ein wenig aufgeregt.
Er versuchte sich zu entspannen. Es würde ein anstrengender Flug werden. Margaret kannte seine wahre Identität. Sie hatte zwar sein Spiel mitgemacht, aber sie konnte es sich immer noch anders überlegen oder sich auch nur versprechen. Harry konnte es sich nicht leisten, Verdacht zu erregen. Er würde an den Beamten der US- Einwanderungsbehörde vorbeikommen, solange man keine verhängnisvollen Fragen stellte. Aber wenn diese Leute mißtrauisch wurden und beschlossen, ihn zu überprüfen, würden sie schnell herausfinden, daß er einen gestohlenen Reisepaß benutzte. Dann wäre der Traum zu Ende.
Ein neuer Passagier wurde zu dem Sitz gegenüber Harrys Platz geleitet. Der Mann war sehr groß, er trug Bowler und dunkelgrauen Anzug, an dem vor Jahren nichts auszusetzen gewesen wäre, dem sein Alter jedoch anzumerken war. Etwas an ihm machte Harry stutzig, als er ihn beobachtete, während er seinen Mantel auszog und sich auf seinem Platz niederließ. Er trug derbe, merklich abgetragene schwarze Schuhe, dicke Wollsocken und unter dem doppelreihigen Jackett eine weinrote Weste. Seine dunkelblaue Krawatte sah aus, als würde sie seit zehn Jahren jeden Tag auf die gleiche Weise geknotet.
Harry hätte schwören können, daß der Mann ein Polizist war.
Es war noch nicht zu spät, aufzustehen und auszusteigen.
Niemand würde ihn aufhalten. Er brauchte nur davonzuschlendern und zu verschwinden.
Aber er hatte neunzig Pfund bezahlt!
Außerdem mochte es Wochen dauern, bevor er wieder eine
Transatlantikpassage bekommen konnte, und während er darauf wartete, lief er Gefahr, wieder verhaftet zu werden.
Noch einmal überlegte er, ob er sich nicht doch in England verstecken sollte, und wieder verwarf er diese Idee. Während des Krieges würde es viel zu schwierig sein unterzutauchen, weil gewiß jeder Wichtigtuer die Augen nach feindlichen Spionen offenhielt.
Wesentlicher war jedoch, daß ein Leben als Flüchtiger für ihn unerträglich wäre – in billigen Absteigen zu hausen, einen großen Bogen um Polizisten zu machen und ständig von einem Ort zum anderen zu ziehen.
Falls es sich bei dem Mann ihm gegenüber tatsächlich um einen Polizeibeamten handelte, war er ganz sicher nicht hinter ihm her, sonst würde er es sich nicht für den Flug gemütlich machen. Harry hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Kerl vorhatte, aber er grübelte nicht weiter darüber nach, sondern konzentrierte sich auf seine eigene mißliche Lage. Margaret war der Gefahrenfaktor. Was konnte er tun, um sich zu schützen?
Sie hatte sein Spiel mitgespielt, weil es ihr Spaß machte. Aber wie die Dinge standen, konnte er sich nicht darauf verlassen, daß es dabei blieb. Er konnte seine Chancen jedoch erhöhen, wenn er ihr näherkam. Falls es ihm gelang, ihre Zuneigung zu gewinnen, würde sie eine Art Loyalität ihm gegenüber empfinden und darauf achten, daß sie ihn nicht versehentlich verriet.
Margaret Oxenford näherzukommen würde keine unangenehme Aufgabe sein. Er musterte sie aus den Augenwinkeln. Sie hatte die herbstlichen Farben wie ihre Mutter: rotes Haar, blasse Haut mit vereinzelten Sommersprossen und diese faszinierenden dunkelgrünen Augen. Ob sie eine gute Figur hatte, konnte er nicht erkennen, aber sie hatte schlanke Waden und schmale Fesseln. Sie trug einen schlichten, sehr leichten Kamelhaarmantel über einem rotbraunen Kleid. Ihre Sachen sahen zwar teuer aus, aber ihr fehlte dieses Gefühl für Eleganz, über das ihre Mutter verfügte. Doch dazu mochte es mit der Zeit noch kommen, wenn sie älter und selbstsicherer wurde. Sie trug keinen interessanten Schmuck, nur eine einfache Perlenkette. Sie hatte gutgeschnittene, regelmäßige Züge und ein entschlossenes
Kinn. Sie war nicht der Typ, den er gewöhnlich ansprach – er suchte sich immer Mädchen mit irgendeinem Schönheitsfehler aus, weil sie viel leichter zu hofieren waren. Margaret sah viel zu gut aus, als daß sie leicht zu gewinnen wäre. Aber sie fand ihn offenbar sympathisch, und das war immerhin ein Anfang. Er beschloß, ihr Herz zu erobern.
Der Steward Nicky kam ins
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