Nacht über den Wassern
Abteil. Er war ein kleiner, dicker, weichlicher Typ Mitte Zwanzig. Harry hielt ihn für einen Schwulen. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß viele Kellner vom anderen Ufer waren. Nicky verteilte Listen mit den Namen der Passagiere und der Crew dieses Fluges.
Harry studierte die Liste voll Interesse. Er hatte von Baron Philippe Gabon, dem reichen Zionisten, gelesen. Auch der nächste Name, Professor Carl Hartmann, war ihm nicht fremd. Von Prinzessin Lavinia Bazarov hatte er noch nicht gehört, aber der Name ließ darauf schließen, daß es sich um eine Russin handelte, die vor den Kommunisten geflüchtet war, und ihre Anwesenheit an Bord deutete darauf hin, daß sie zumindest einen Teil ihres Vermögens aus dem Land hatte schaffen können. Und Lulu Bell, die Filmdiva, kannte er selbstverständlich. Erst vor einer Woche hatte er Rebecca Maugham-Flint ins Gaumont in der Shaftesbury Avenue geführt, wo ein Film mit Lulu Bell, Eine Spionin in Paris, aufgeführt wurde. Sie hatte wie üblich ein forsches Mädchen gespielt. Harry war sehr neugierig auf sie.
Percy, der dem Heck zugewandt saß und ins nächste Abteil sehen konnte, sagte: »Sie haben die Tür geschlossen.«
Harry wurde wieder nervös.
Erst jetzt fiel ihm auf, daß das Flugzeug auf dem Wasser sanft auf und nieder schaukelte.
Ein Dröhnen wie fernes Kanonenfeuer ertönte. Harry blickte besorgt aus dem Fenster, und während das Dröhnen lauter wurde, fing ein Propeller an, sich zu drehen. Die Motoren wurden gestartet. Er hörte den dritten und vierten aufheulen. Zwar war der Lärm durch die dicke Schalldämpfung minimal, aber die Vibration der mächtigen Motoren war deutlich zu spüren, und Harrys Angst wuchs.
Auf dem Schwimmdock löste ein Seemann die Vertäuung. Ein Gefühl unausbleiblichen Verhängnisses überwältigte Harry, als die
Trossen, die ihn noch mit dem Land verbunden hatten, ins Wasser geworfen wurden.
Es war ihm schrecklich peinlich, daß er Angst hatte, und er wollte nicht, daß irgend jemand ahnte, wie er sich fühlte, darum holte er eine Zeitung aus der Tasche, schlug sie auf und lehnte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen zurück.
Margaret tippte auf sein Knie. Sie brauchte die Stimme nicht zu heben, um verstanden zu werden – die Schalldämpfung war erstaunlich. »Ich habe auch Angst«, gestand sie.
Harry hätte sich vor Scham am liebsten verkrochen. Er hatte sich eingebildet, völlig ruhig zu wirken.
Das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Er umklammerte die Lehnen seines Sitzes, dann zwang er sich, sie loszulassen. Kein Wunder, daß Margaret erkannte, daß er Angst hatte. Wahrscheinlich war er so weiß wie die Zeitung, die er zu lesen vorgab.
Margaret hatte die Knie aneinandergepreßt und die Finger auf dem Schoß verschränkt. Sie wirkte ängstlich und freudig erregt zugleich, als wäre sie auf der Achterbahn. Ihre geröteten Wangen, die weit aufgerissenen Augen und der nicht ganz geschlossene Mund machten sie zu einem aufregenden Anblick. Wieder fragte sich Harry, wie wohl ihre Figur unter dem Mantel aussah.
Er ließ den Blick heimlich über die anderen schweifen. Sein Gegenüber schnallte ruhig den Sicherheitsgurt zu. Margarets Eltern blickten aus dem Fenster. Lady Oxenford schien ungerührt zu sein, aber Lord Oxenford räusperte sich immer wieder laut, ein sicheres Zeichen von Nervosität. Percy war so aufgeregt, daß es ihm schwerfiel, sitzen zu bleiben, aber Angst schien er nicht im geringsten zu haben.
Harry starrte auf seine Zeitung, aber er vermochte nicht ein Wort zu lesen, deshalb senkte er sie und schaute aus dem Fenster. Das mächtige Luftschiff schwamm majestätisch hinaus aus dem Hafen, wo Ozeandampfer in einer langen Reihe schaukelten. Sie befanden sich bereits in geraumer Entfernung, und zwischen ihm und dem Land sah er nun mehrere kleinere Wasserfahrzeuge. Jetzt kann ich nicht mehr aussteigen, dachte er.
Das Wasser wurde kabbelig, als sich das Luftschiff auf die Mitte der Flußmündung zubewegte. Seekrankheit kannte Harry nicht, aber er fühlte sich sehr unbehaglich, als der Clipper auf den Wellen ritt. Das Abteil sah zwar aus wie ein Zimmer in einem festen Haus, doch die Bewegung erinnerte ihn laufend daran, daß er in einem zerbrechlichen Fahrzeug aus dünnem Aluminium saß.
Nachdem das Flugzeug die Mitte der Flußmündung erreicht hatte, wurde es langsamer und begann ein Wendemanöver. Es wiegte sich in der Brise, und Harry nahm an, daß es sich zum Abheben in den Wind drehte. Dann schien es
Weitere Kostenlose Bücher