Nacht über der Prärie
12. Klasse, achtzehn Jahre alt.«
Der große graugrüne Schulbus kam und bremste. Queenie stieg ein. Sie schaute noch zurück, bis eine Kurve ihr die Aussicht auf Joe und die Pferde nahm.
Die Schüler und Schülerinnen im Bus verhielten sich ruhig. Niemand betrachtete Queenie aufdringlich. Die Buben und Mädchen waren sauber, wenn auch zum Teil recht ärmlich gekleidet. Aus allen Gesichtern schauten die unausgesprochenen Fragen.
Sobald Queenie das hübsche helle Gebäude ihrer ehemaligen Schule zu Gesicht bekam, fühlte sie sich wie ein Kind, das Pflichten gegenüber Großen und Respekt vor ihnen hat. Sie fand sich durch zu ihrem Klassenraum. Es war ein lichtes Zimmer mit Tisch und Stuhl für jeden einzelnen Schüler; an der Wand hingen Bilder aus dem Zeichenunterricht. Queenie überflog sie sogleich mit den Augen. Bunt, aber nicht genial, dachte sie ein wenig hochmütig.
Zu Beginn erhoben sich alle Schüler der Klasse wie ein Mann von ihren Plätzen, standen still und stramm und sprachen gemeinsam, die Hand aufs Herz gelegt, das Gelöbnis für das Sternenbanner. So hatten sie es vom ersten Schuljahr an geübt.
Queenie hatte dieses Treuegelöbnis, das vielen Indianerkindern schwer wurde, früher ohne viel Widerstreben oder Nachdenken gesprochen. Jetzt fühlte sie sich von Erfahrungen und Gedanken bedrängt, und die Worte von den Völkern, die unter dem Banner alle frei seien, klangen in ihren Ohren nicht als Ausdruck der Wirklichkeit, sondern wie eine Hoffnung.
Mrs. Holland selbst hatte die erste Stunde. Obgleich Queenie sich vorgenommen hatte, sehr zurückhaltend zu sein, blieb ihr nichts anderes übrig, als gleich in der ersten Stunde in englischer Literatur mit ihren Kenntnissen zu glänzen. Sie mußte Mrs. Holland den Gefallen tun und ihr den Unterricht dadurch leichter machen. Die übrigen Schüler und Schülerinnen schauten noch scheu auf die Neue. Aber sie konnten nicht zu der Meinung kommen, daß diese ein widerwärtiger Tüchtigkeitsathlet sei, denn in der nächsten Stunde erging es Queenie bedeutend schlechter. Auf der Kunstschule hatte sie die Wahl zwischen Chemie und Biologie gehabt und Chemie gewählt. In Biologie war sie infolgedessen noch weiter zurückgefallen, als ihre Abneigung gegen dieses Fach ohnehin bedingte. Sie versprach, eifrig nachzuarbeiten, und die Lehrerin glaubte ihrem freundlichen und ernsten Gesicht.
Dann trat Mr. Teacock auf, der Mathematik und aus einer Tradition, die sich einmal aus Lehrermangel und vertretungsweiser Übernahme ergeben hatte, nebenbei auch Geschichten lehrte. Queenie wurde rot, als sie ihn sah. Er hatte ein schmales Gesicht, eine starke Nase, graues Haar; seine Stimme war trocken, seine Aussprache deutlich, seine Augen forschten über und unter allen Tischen nach den Anzeichen von Ordnung oder Unordnung. Das neue Gesicht fiel ihm sofort auf, und er sah im Klassenbuch nach.
»Queenie King?«
Queenie war aufgestanden. »Ja.«
Mr. Teacocks Gedanken blätterten in Gedächtnisbildern.
»Wieso Queenie King? Ich kenne Sie doch…«
»Queenie King, geborene Halkett.«
Die ganze Klasse freute sich, daß der Unterricht unterbrochen war. Stillvergnügt saßen Mädchen und Jungen an ihren Plätzen.
»Queenie Halkett? Queenie Halkett! Ja, Sie hatten bei mir in der 5. Klasse eine sehr gute Zensur in Mathematik. Ich mußte damals ausnahmsweise einen Kurs in der 5. Klasse übernehmen. Sind Sie nicht auf die Kunstschule abgegangen?«
»Ja.«
»Und warum sind Sie jetzt wieder hier?«
»Ich mache die 12. Klasse in unserer Schule.«
»So. Ich wußte das noch nicht. Queenie Halkett – wieso King?«
»Ich bin verheiratet.«
»Sie sind – « Jetzt wurde der alte Lehrer rot. »Ach, Sie sind – verheiratet. Also Missis King…« Dieser Name schien Mr. Teacock nun erst aufzustoßen. »King?«
»Ja.«
»Aber nicht etwa verwandt mit… O nein.« Mr. Teacock brach ab und löschte dieses Gesprächsthema schnell von der unsichtbaren Tafel der Klassenenaufmerksamkeit. Sein widersetzlichster Schüler, dieser Dieb, war ihm eingefallen.
Die Mathematikstunde verlief erfolgreich. Mathematik war eines von Queenies Lieblingsfächern. Hier war sie ihren Mitschülern voraus. Bei Mr. Teacock aber galt nichts als Wissen und Korrektheit; Queenie gewann sein Wohlwollen sofort wieder in hohem Maße.
Zwölf Uhr dreißig wurde zu Mittag gegessen. Die Schüler und Schülerinnen gingen in den großen Speisesaal und erhielten Tablett, Teller und Besteck, um sich auf dem Wege der
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