Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht über der Prärie

Nacht über der Prärie

Titel: Nacht über der Prärie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
Vom Netzwerk:
auszuweichen. Er fing das Messer, ehe es sich in die Tür bohrte, und ging damit langsam wieder auf den Tisch und Harold zu. »Rühre dich nicht«, sagte er, »denn ich werfe besser als du.«
    Als er am Tisch angekommen war, ohne daß Vater Isaac sich von seinem Stuhl bewegte oder Harold auch nur zu zucken wagte, fuhr er fort: »Ich werde dir jetzt viermal ins Gesicht schlagen, weil du ein falscher Zeuge und Lump bist und eine Schande für unseren Stamm. Und gestehe! Gib deine Lumpentat zu Protokoll. Ich setze dir eine Frist. Ostern ist der letzte Tag.«
    Joe steckte Harolds Messer in den eigenen Gürtel, schwang sich über den Tisch und schlug Harold, der sich ihm aus einer instinktiven Reaktion heraus frontal zugewandt hatte, je zweimal auf die eine und auf die andere Backe. Die vier Schläge knallten sehr rasch hintereinander, und Harold wurde blau und rot. Es fiel ihm schwer, sich auf den Beinen zu halten. Als dies geschehen war, schwang sich Stonehorn wieder über den Tisch zurück und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, wieder zur Tür. Er warf Harolds Messer auf den Boden und verließ das Haus.
    Den Rest des Abends verbrachte die Familie Booth in vollständigem Schweigen.
    Erst als die beiden Frauen sich in ihre Schlafkammer zurückgezogen hatten, sagte Vater Isaac zu seinem Sohn Harold: »Du Hund! Und das ist das letzte Wort, das ich je in meinem Leben noch zu dir gesprochen habe.«
    Isaac blieb auf seinem Stuhl sitzen. Er hatte seinen jüngsten Sohn verloren und war einsam geworden.
    Harold konnte sich nur schwer auf den Beinen halten. Aber als er sich gefangen hatte, ging er hinaus zu dem leeren Schweinestall, wo er seinen Brandy versteckt hatte, soff sich Mut an und holte dann sein Jagdgewehr.
    Er lief zu der Straße und weiter bis zu der Abzweigung, an der der Weg zu dem Hause der Kings begann. Oben war Licht. Er schlich sich hinauf und wollte durch das Fenster schießen. Als er anlegte, stand jemand hinter ihm; er fühlte eine Hand an seiner Gurgel, und die Waffe wurde ihm weggeschlagen. Er erhielt einen Fußtritt, überschlug sich mehrmals, rollte den Abhang hinab und blieb unten ohne Bewußtsein liegen.
    Morgens kam er wieder zu sich, der kühle Regen weckte ihn. Es fiel ihm schwer, sich der Vorgänge des verflossenen Abends zu entsinnen. Als er die Gedankenkette geknüpft hatte, suchte er seine Waffe, fand sie aber nicht. Er schlich nach Hause, in die Schlafkammer der Frauen, wo er seine weinende Mutter traf. Sie gab ihm etwas zu essen und etwas zu trinken, aber er merkte wohl, daß auch sie nicht mit ihm reden wollte. Er zog sich in den Raum zurück, in dem er mit dem Vater zusammen die Nacht zu verbringen hatte, wickelte sich in seine Decken und schlief. Als er erwachte, hoffte er, daß alles ein böser Traum gewesen sei, doch sagten ihm die Schweigsamkeit des Vaters und sein eigenes verschwollenes Gesicht etwas anderes.
    Er machte sich auf dem Kartoffelacker zu schaffen, erhielt sein Mittag- und sein Abendessen und konnte sich auf seine Decken legen, aber niemand sprach ein Wort mit ihm, der Vater nicht, die blasse alte Mutter nicht und Mary nicht. Harold begann zu begreifen, was von nun an sein Schicksal sein würde, aber er wußte noch nicht, was er dagegen tun könne. Stumpf brütete er vor sich hin und zog einen hemmungslosen Haß groß.
     

Der Brunnen
    Als President Jimmy White Horse sich dem Amtszimmer des Superintendent näherte, duckte sich sein Nacken. Jimmy wußte das selbst nicht mehr; es war Gewohnheit. Seine Gedanken waren damit beschäftigt, daß er nun wieder versteckte Vorwürfe hören und neue Pläne werde begreifen müssen. Diese Aussicht erfüllte ihn mit wenig Zuversicht, denn in dem Jahrzehnt, in dem er fünfmal zum President seines Stammes gewählt worden war, hatte sich alles, was verändert worden war, im wesentlichen ohne ihn gewandelt. Er hatte Kenntnis genommen, er hatte vermittelt, er hatte auch getrunken, wenn er es nicht mehr zum Aushalten fand. Die Parteien der Trinker und der Traditionalisten hatten ihn bei der Wahl immer wieder durchgebracht. Er bezog auf seinem Posten ein kleines Gehalt, das ihm und seiner Familie ein etwas auskömmlicheres Leben gestattete als vielen armen Mitgliedern des Stammes, und er hatte sein Haus in der Agentursiedlung, in der es fließendes Wasser gab.
    Der Superintendent schätzte ihn wohl im großen und ganzen so ein, wie er war, und das beruhigte Jimmy, denn es hätte ihn sehr erschreckt, seine Rolle auf eine Weise spielen zu

Weitere Kostenlose Bücher