Nacht über Eden
nicht«, beteuerte ich. Meine Mutter hatte mir das eingeschärft, seit ich sprechen konnte.
»Nein, ich nehme auch nicht an, daß du so werden wirst.« Sie lächelte zärtlich. »So sehr dein Daddy sich auch bemüht hat, es ist ihm nicht gelungen, dich zu verziehen«, sagte sie, und ihr Blick ruhte liebevoll auf mir.
»Mutter, wirst du mir jemals erzählen, warum du Tony Tatterton so sehr haßt?« Ich schluckte hastig und biß mir auf die Zunge, um ja nichts von Drakes Brief und seinem Besuch in Farthy zu erzählen.
»Ich hasse ihn nicht so sehr, wie ich ihn bemitleide, Annie«, sagte sie, und ihre Stimme klang fest. »Er mag einer der reichsten Männer der Ostküste sein, aber für mich ist er ein armer Mensch.«
»Aber warum?«
Sie starrte mich an. Konnte sie in meinem Gesicht lesen, was mir Drake geschrieben und am Telefon erzählt hatte? Ich mußte die Augen senken, doch eigentlich sah sie mich gar nicht an, sondern durch mich hindurch auf ihre eigenen Erinnerungen. Sie preßte die Lippen zusammen, und ihre Augen wurden schmal.
»Mammi?«
»Annie«, begann sie schließlich, »vor langer Zeit hat mir einmal jemand gesagt, daß man sich manchmal selbst täuscht, indem man Wünsche und Bedürfnisse mit Liebe verwechselt.
Er hatte recht. Liebe ist etwas sehr Wertvolles, aber auch etwas sehr Zerbrechliches. So zerbrechlich wie… eines der kleinen, komplizierten, handgefertigten Spielzeuge. Wenn man es zu fest hält, zerbricht es, hält man es nicht fest genug, so kann ein Windstoß es auf den harten Boden blasen. Höre immer auf die Stimme deines Herzens, Annie, aber du mußt dir ganz sicher sein, daß es wirklich dein Herz ist, das zu dir spricht. Wirst du immer daran denken, Annie?«
»Ja. Aber warum sagst du mir das? Hat es mit deinem Leben in Farthy zu tun?« Ich hielt den Atem an.
»Eines Tages werde ich dir alles erzählen, Annie. Ich verspreche es dir. Laß mir nur etwas Zeit. Bitte, hab Vertrauen.«
»Ich vertraue dir, Mammi. Mehr als irgend jemand anderem auf der Welt.« Ich war enttäuscht. Seit wieviel Jahren hörte ich dieses Versprechen schon? Wann war die Zeit endlich gekommen? Ich war schon achtzehn Jahre alt und eine erwachsene Frau. Sie hatte mir ihre wertvollsten Diamanten geschenkt und mir die kleine Spielzeughütte anvertraut, die ihr so teuer war wie nichts auf der Welt. Wann würde sie mir endlich die Geschichte ihres Lebens anvertrauen?
»Meine Annie, meine liebe, liebe Annie.« Sie nahm mich in die Arme und preßte ihre Wange an die meine. Dann seufzte sie und stand auf. »Ich habe noch kein Geburtstagsgeschenk für deine Tante Fanny gekauft. Möchtest du mir beim Aussuchen helfen?«
»Ja. Luke ärgert sich so sehr über ihre Pläne für die Party.«
»Ich weiß. Es ist mir ein Rätsel, warum sie uns dabeihaben will. Aber unterschätze deine Tante Fanny nicht. Sie redet zwar wie ein Hinterwäldler, aber sie ist nicht dumm. Sie vermittelt uns schon Schuldgefühle, ehe wir uns ablehnend verhalten können. In ihrer Art ist sie einmalig«, fügte sie hinzu und schüttelte belustigt den Kopf.
»Sprich mit ihr über Luke, Mutter. Erklär ihr, daß sie aufhören muß, ihm Harvard zu verderben.«
»Er ist angenommen?« Ihre Stimme klang freudig.
»Ja, und er hat ein Vollstipendium bekommen.«
»Wie wunderbar.« Sie richtete sich stolz auf. »Ein weiterer Nachkomme von Großvater Toby Casteel geht also nach Harvard«, verkündete sie, als würde sie zu der ganzen Stadt sprechen. Dann wurden ihre Augen sanft. »Mach dir keine Sorgen wegen Fanny. Glaub mir, im Innersten ihres Herzens ist sie stolz auf Luke. Ich bin sicher, daß sie irgendeinen Grund finden wird, um ihn zu besuchen und über den Campus zu stolzieren wie eine Königin.«
Sie verschränkte die Arme unter der Brust, wie es Tante Fanny zu tun pflegte, und warf den Kopf zurück. »Na ja, mein Sohn besucht das College, also hab ich mir gedacht, ich kann über den Campus gehen, wann immer es mir paßt!«
Wir lachten beide, und dann nahm sie mich wieder in die Arme.
»So ist es schon besser. Jetzt bist du die Annie, die du sein solltest: glücklich, fröhlich und lebendig. So wie ich gerne gewesen wäre«, sagte sie zärtlich. Die Tränen, die jetzt über meine Wangen liefen, waren Freudentränen.
Wie schnell meine Mutter die dunklen Wolken meiner Schwermut vertreiben konnte! Meine Welt war jetzt plötzlich wieder von hellem, goldenem Sonnenschein erfüllt, und der Gesang der Vögel schien mir nicht länger traurig. Ich
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