Nacht über Eden
durcheinander: Harvard, die Tattertons und all jene, die sie als
›verdammte Stadtsnobs‹ bezeichnet.«
»O Luke, das ist so ungerecht dir gegenüber«, tröstete ich ihn.
Er nickte.
»Ich habe ihr also nichts von meiner Bewerbung erzählt«, fuhr er fort. »Gestern kam dann mit der Post die Aufnahmebestätigung, und sie hat den Brief geöffnet. Dann hat sie sich betrunken und ihn zerrissen. Ich habe die Fetzen auf dem Fußboden meines Zimmers gefunden.«
»O Luke, das tut mir leid«, flüsterte ich.
»Das macht nichts. Die Tatsache, daß sie ihn zerrissen hat, wird mich nicht daran hindern, nach Harvard zu gehen. Aber die ekelhaften Dinge, die sie gesagt hat, als sie betrunken war, haben mir sehr weh getan.«
Obwohl er mir nicht erzählte, was sie gesagt hatte, wußte ich doch, gegen wen sich ihre Worte gerichtet hatten.
»Über meinen Vater?« Ich atmete tief durch, um mich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. »Du kannst mir auch das erzählen.« Ich schloß die Augen und bebte innerlich in Erwartung all der Gemeinheiten, die ich nun hören würde.
»Ich werde dir nicht alles sagen, denn einiges war so haßerfüllt und grauenvoll, daß ich mich selbst nicht mehr daran erinnern möchte. Das schlimmste war, daß sie mich beschuldigte, ich gliche Logan mehr als ihr und wäre öfter bei den vornehmen Stonewalls als bei ihr. Aber wirklich, Annie, deine Eltern behandeln mich besser als sie. Sie ist kaum zu Hause und hat nie Zeit, das Essen zuzubereiten. Trotzdem wirft sie mir vor, daß ich so viel Zeit in eurem Haus verbringe.
Sie haßt mich dafür.«
»O Luke, sie haßt dich nicht.«
»Sie haßt einen Teil von mir – nämlich, daß ich auch ein Stonewall bin. Daher betrinkt sie sich und zieht mit ihren jungen Liebhabern los. Anschließend ärgert sie sich über mich, weil ich es nicht mag, wenn sie sich betrinkt.«
»Es tut mir so leid, Luke, aber denk nur daran, daß du bald auf das College gehst und all das hinter dir läßt«, tröstete ich ihn, auch wenn mich die Vorstellung erschreckte, daß wir getrennt sein würden…
»Sie meint, daß ich sie nicht mag. Aber das stimmt nicht. Ich hasse nur das, was sie sich selbst manchmal antut. Aber sie tut mir auch leid, denn ihr Leben ist ja nicht sonderlich glücklich verlaufen. Also habe ich viel gearbeitet und mich angestrengt, so gut ich konnte, um ihr die Möglichkeit zu geben, stolz auf mich zu sein und mit hocherhobenem Kopf durch die Straßen zu gehen. Aber das tut sie ja sowieso«, fügte er hinzu. Ich lächelte. Tante Fanny würde nicht zögern, jeglichen Erfolg stolz in Winnerrow zur Schau zu stellen.
»Aber statt sich darüber zu freuen, daß ich mit einem Vollstipendium in Harvard angenommen wurde, wirft sie mir vor, ich würde sie im Stich lassen.«
»Sie wird ihre Meinung ändern«, versicherte ich ihm. Armer Luke, dachte ich. Er hatte so hart gearbeitet, damit wir alle stolz auf ihn sein könnten, und seine Mutter hatte diesen Anlaß zum Stolz in Fetzen zerrissen und ihn wie Abfall auf den Boden geworfen. Das mußte ihm fast das Herz gebrochen haben.
Jetzt hätte ich ihn so gerne in die Arme genommen und getröstet. Ich hätte es getan, wenn mich nur… wenn mich nur nicht so vieles zurückgehalten hätte…
»Ich weiß es selbst nicht. Auf alle Fälle freue ich mich nicht besonders auf ihre Geburtstagsparty. Sie hat alle Männer eingeladen, die sie jemals ausgeführt haben, und auch einige von ihren Freunden aus der Unterschicht. Das hat sie nur getan, um die Familie zu ärgern.« Er schüttelte den Kopf. »Es wird für keinen von uns sehr angenehm werden.«
»Meine Mutter wird das schon in den Griff bekommen«, sagte ich, und der Gedanke an Mammis Geistesgegenwart und Entschlossenheit munterte mich auf. »Sie kann sich in jeder Situation wie eine Dame benehmen. Ich hoffe, daß ich in ihrem Alter ebenso stark sein werde wie sie.«
Luke nickte wissend.
»Das wirst du bestimmt. Du gleichst ihr so sehr!«
»Danke. Es gibt niemanden, dem ich lieber ähnlich sein möchte. Und mach dir keine Sorgen wegen der Party. Ich werde dort sein und dir helfen, falls Tante Fanny die Kontrolle über sich verlieren sollte«, versicherte ich ihm.
»Du hast sie noch nie gesehen, wenn sie wirklich die Kontrolle über sich verloren hat, Annie«, warnte Luke. Dann schüttelte er den Kopf, und seine Miene hellte sich auf. »Auf alle Fälle, vielen Dank für’s Zuhören. Du warst immer für mich da, wenn ich dich gebraucht habe, und es hat mir immer
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