Nacht über Eden
gekleidet war, aber sie hatte mir immer erlaubt, meine Sachen selbst auszusuchen. Sie hatte nie versucht, mir ihren Geschmack aufzudrängen, und meinem Vater hatte es gefallen, wenn ich Jeans und übergroße Sweatshirts trug.
Tony hatte aber vermutlich trotzdem recht. Wie meine Mutter neigte ich eher dazu, mich feinzumachen. Darin unterschied ich mich von anderen Mädchen meines Alters.
»Ich habe das Kleid mitgebracht, damit du es morgen anziehen kannst. Denn morgen ist ein besonderer Tag für dich.
Du wirst das Krankenhaus verlassen und nach Farthy zurückkehren.«
»Zurückkehren?«
»Ich meine, mit mir nach Farthy zurückkehren«, berichtigte er sich hastig. »Außerdem wird es dir Glück bringen, wenn du ein Kleid trägst, das deiner Mutter gehört hat.«
Am nächsten Morgen half mir Mrs. Broadfield, das Kleid anzuziehen, und schob mich dann vor den Spiegel, der über dem Waschbecken des Krankenzimmers hing. Es war erstaunlich, wie sehr ich in diesem Kleid meiner Mutter glich.
Mrs. Broadfield erklärte sich bereit, mir beim Kämmen zu helfen, und ich frisierte mein Haar zurück, wie ich es auf alten Bildern von meiner Mutter gesehen hatte. Wenn ihr Haar auch ein wenig dunkler gewesen war als meines, hatte es doch dieselbe feine Struktur.
Als Tony kam und mich in dem Kleid sah, leuchtete sein Gesicht auf. Ich bemerkte, daß seine Augen mich schier verschlingen wollten. Er starrte mich so lange wortlos an, daß ich mich schließlich unwohl zu fühlen begann. »Ich bin fertig, Tony«, sagte ich, um den Bann zu brechen, in dem er gefangen schien.
Sein Blick belebte sich plötzlich wieder. »Ja, ja, Annie, gehen wir.« Er sah viel jünger aus als sonst. Vielleicht lag das an dem leichten, hellblauen Sommeranzug, der das Blau seiner Augen betonte. Von der Blässe, die ich manchmal auf seinem Gesicht bemerkt hatte, war nichts mehr zu sehen. Seine Wangen waren rosig, und sein Haar schien voller und glänzender als je zuvor.
An Tonys Seite schob mich Mrs. Broadfield aus meinem Krankenzimmer und den Gang entlang zu den Aufzügen. Noch einmal wünschten mir die Schwestern der Station Glück und winkten mir zum Abschied zu.
Ich spürte, wie das Blut in meinen Schläfen pulsierte. Die Erinnerung an den furchtbaren Unfall auf der Straße nach Winnerrow war ein wenig verblaßt, doch immer noch glaubte ich die Stimme meines Vaters zu hören, die verzweifelt meinen Namen rief.
Als sich die Türen des Aufzugs schlossen, warf ich einen letzten Blick auf den Krankenhauskorridor. Die Ärzte und Schwestern machten sich wieder an ihre Arbeit. Nun war ich nur noch ein Name unter vielen, den man jetzt von der Krankentafel löschen würde, eine Akte, die man abschließen konnte.
»Meine Postkarten! Ich habe sie an der Wand in meinem Krankenzimmer vergessen!«
»Deine Karten? O ja, die Genesungswünsche. Ich werde sie nach Farthy bringen lassen«, versprach Tony, aber die Vorstellung, daß ich sie vergessen hatte, stimmte mich traurig.
Drakes und Lukes Karten… Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich nichts aus Winnerrow und nichts von Luke mit mir nehmen würde. Ich trug nicht einmal das Armband.
Die Türen des Aufzugs öffneten sich wieder, und ich wurde zu der Limousine geschoben.
»Annie, dies ist mein Chauffeur, Miles. Er hat deine Mutter sehr gut gekannt«, sagte Tony.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Miß Annie. Ich bin froh, daß Sie das Krankenhaus verlassen können«, sagte Miles und tippte mit der Hand an den Rand seiner Mütze. Ich sah das Lächeln in seinen Augen und auf seinen Lippen; es war ein heiteres, freundliches Lächeln. Ich war sicher, daß ich ihn an meine Mutter erinnerte.
»Danke, Miles.«
Er öffnete die rückwärtige Tür, und Mrs. Broadfield gab Anweisungen, wie man mich aus dem Rollstuhl auf den Rücksitz heben sollte. Tony wollte unbedingt helfen. Er setzte sich als erster in den Wagen und nahm mich aus Mrs.
Broadfields Armen. Als er mich vorsichtig auf den Sitz gleiten ließ, drückte er mich fest an seine Brust. Sein Mund streifte meine Wange, und er heilt mich eng an sich gepreßt. Ich war erstaunt über seinen festen Griff und hatte das Gefühl, daß er mich nicht mehr loslassen würde. Doch schließlich löste er seinen Griff und wies Miles an, den Rollstuhl zusammenzuklappen und im Kofferraum zu verstauen. Mrs.
Broadfield setzte sich zu uns auf den Rücksitz, und Miles ließ den Wagen an. So begann meine Reise nach Farthinggale Manor.
ZWEITER TEIL
9. KAPITEL
ÜBER DIE
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