Nacht über Eden
SCHWELLE
Von dem mit weichem Veloursleder bezogenen Rücksitz blickte ich durch das Fenster hinaus auf die Straße. Der Himmel war leider bedeckt, aber plötzlich brach strahlend die Sonne durch die düsteren Wolken, und ich erblickte eine große aquamarinblaue Stelle, die mich an träge Sommertage zu Hause in Winnerrow erinnerte. Vielleicht würde Gott mir doch seinen Segen schenken.
Als ich zurückschaute, sah ich, wie groß das Bostoner Krankenhaus war, zumal im Vergleich zu unserem Städtischen Krankenhaus in Winnerrow. Wir passierten das Tor und durchquerten einen Teil der Bostoner Innenstadt, ehe wir die große Durchgangsstraße erreichten, die uns zu Farthinggale Manor bringen sollte. Die Häuserreihen hörten auf, statt dessen waren Wälder und weite grüne Wiesen zu sehen und nur noch vereinzelt hier und da ein paar Häuser.
»Bequem?« fragte Tony. Er zog das Kissen zurecht, das Mrs.
Broadfield zwischen meinen Rücken und die Rücklehne des Sitzes gestopft hatte.
»Ja, sehr.«
Ich war ganz zufrieden damit, einfach nur aus dem Fenster zu blicken und die Landschaft zu betrachten, während wir die Straße Richtung Farthinggale Manor entlangfuhren.
»Ich erinnere mich noch so gut an den Tag, als Jillian und ich deine Mutter das erstemal vom Flughafen abgeholt haben, um sie nach Farthy zu bringen. Sie war wie du und sah genauso jung und unschuldig aus, mit ihren großen, staunenden Augen.
Ich spürte, daß sie nervös war. Jillian, deine Urgroßmutter, hatte keine Ahnung, daß Heaven für immer bei uns bleiben würde. Sie dachte, es sei nur ein kurzer Besuch.«
Er lachte. »Jillian war sehr darauf bedacht, jugendlich auszusehen und für jung gehalten zu werden, deshalb bat sie deine Mutter – nein, sie befahl es ihr –, sie mit Jillian anzusprechen und nicht mit Großmutter.«
»Darunter hat meine Mutter sehr gelitten.«
»Sie ließ sich aber nichts anmerken. Heaven war eine sehr kluge und schöne Frau, obwohl sie noch so jung war.« Tony starrte schweigend aus dem Fenster, in Gedanken verloren.
Dann seufzte er und schüttelte seine Träumereien ab. »Wir sind bald da. Sieh nach rechts und halte Ausschau nach der Stelle, wo die Bäume aufhören. Der erste Blick auf Farthinggale Manor ist unvergeßlich.«
»Wie alt ist Farthy?« fragte ich.
»Es wurde 1850 von meinem Ur-Ur-Urgroßvater gebaut, aber laß dich von dem hohen Alter nicht irreleiten. Es ist ein prächtiges Gebäude, so luxuriös wie jede moderne Villa. So mancher Filmschauspieler und Unternehmer hat mir schon ein Angebot gemacht.«
»Würdest du es denn verkaufen?«
»Um keinen Preis. Farthinggale ist so sehr Teil von mir wie… wie mein eigener Name. Als ich ein kleiner Junge war, gab es für mich auf der ganzen Welt kein Haus, das so großartig war wie das, in dem ich lebte. Im Alter von sieben Jahren wurde ich nach Eton geschickt, weil mein Vater der Ansicht war, die Engländer verstünden mehr von Disziplin als unsere Privatschulen hier. Ich hatte schreckliches Heimweh, vom ersten bis zum letzten Tag. Manchmal schloß ich die Augen und bildete mir ein, ich könnte den Geruch der Bäume einatmen – der Tannen, Kiefern und Föhren.« Er schloß die Augen, als könnte er die wohlduftende Luft Farthinggales hier im Wagen einatmen, obwohl es nur nach elegantem Leder roch.
Ich merkte, daß der Wagen das Tempo verlangsamte und dann in eine Privatstraße einbog. Und dann sah ich es mit eigenen Augen: das sagenumwobene, hohe schmiedeeiserne Tor, mit den üppig verzierten Buchstaben, die den Namen FARTHINGGALE MANOR bildeten. Zwischen den eisernen Blättern lugten Kobolde, Feen und Zwerge hervor.
»Es ist beinahe so groß, wie Luke und ich es uns erträumt haben«, seufzte ich.
»Wie bitte?«
»Luke und ich spielten immer ein Spiel, ein Phantasiespiel, bei dem wir uns ausmalten, wie Farthinggale wohl aussehen mag.«
»Nun wirst du es gleich selbst herausfinden.«
Die Zufahrt schien nicht enden zu wollen, und dann tauchte plötzlich ein riesiges Haus aus grauem Stein auf. Es glich tatsächlich einem Schloß. Sein rotes Dach überragte die Bäume, und es hatte Türmchen und kleine rote Brücken…
genau wie auf der Schmuckplatte, die Luke mir geschenkt hatte.
Aber es gab auch vieles, was sich sehr von dem Farthy unserer Träume und Phantasien unterschied, dachte ich, als ich das große Haus genauer betrachtete. Drakes Beschreibung war leider zutreffender.
Die Parkanlagen waren überwachsen und ungepflegt, die Büsche nicht
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